zum Hauptinhalt
Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seinen Mercedes-Dienstwagen auf dem Stuttgarter Schlossplatz.

© picture alliance / dpa

Spitzengewerkschafter über die Industrie: „Zukunftstechnologien entstehen woanders“

Roman Zitzelsberger, IG-Metall-Chef in Baden-Württemberg, über Winfried Kretschmann, die ökologische Transformation und erfolgreiche Industriepolitik.

Herr Zitzelsberger, wie macht es sich bemerkbar, dass Baden-Württemberg seit mehr als zehn Jahren von einem Grünen regiert wird?

Winfried Kretschmann ist damals mit dem Spruch eingestiegen „Weniger Autos sind besser als mehr Autos“. Eine ökologische Transformation in Baden-Württemberg funktioniert aber nur mit der Autoindustrie, das hat auch Kretschmann schnell erkannt. Auf Vorschlag der IG Metall gibt es seit einigen Jahren einen Transformationsbeirat im Rahmen des Strategiedialogs des Ministerpräsidenten. Dort treiben wir den Wandel voran und das Modell kann durchaus als Blaupause für andere Regionen dienen.

Und wie läuft es?
Die Beschleunigung der Elektromobilität ist inzwischen ebenso sichtbar wie das Ende des Verbrennungsmotors. Gleichzeitig führen die Transformation und die damit verbundenen Kostendrücke zur Abwanderung industrieller Produktion. Zukunftstechnologien entstehen woanders, das macht mir derzeit die größten Sorgen. Das ist auch für Winfried Kretschmann eine große Herausforderung.

Was kann ein Ministerpräsident gegen die Verlagerung von Wertschöpfung nach Osteuropa machen?
Ich erwarte deutliche Worte. Als Landesvater sollte er die Erwartung formulieren, dass Wertschöpfung vor Ort stattfindet und diese Ansage dann auch mit der Förderung und Unterstützung der Industrie unterlegen. Wer sich nicht zum Standort bekennt, der kann auch nicht mit Hilfen durch die Politik rechnen.

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Hat Corona die Verlagerung forciert?
In der Hochphase der Pandemie haben alle erwartet, dass das Vorkrisenniveau von 2018 erst wieder in vier oder fünf Jahren erreicht wird. Deshalb wurden massiv die Kosten gedrückt und das erschwert natürlich die Ansiedlung von neuen Technologien und Produktionen. Zumal beihilferechtliche Regelungen der EU eher gegen den Standort Baden-Württemberg sprechen und es woanders deutlich höhere Förderungen gibt.

Brüssel blockiert also Ansiedlungen in Baden-Württemberg?
Die EU erschwert sie. Die Ansiedlung der Elektromotorenfertigung von Schaeffler in Bühl beispielsweise war ein Kraftakt, bei dem die Landesregierung geholfen hat. Kurzum: Wenn es darum geht, eine Produktion neu zu lokalisieren, tut sich Baden-Württemberg schwer im Wettbewerb mit Osteuropa.

Roman Zitzelsberger, seit 2013 Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, gehört zu den wichtigsten Führungspersonen in der Gewerkschaft..
Roman Zitzelsberger, seit 2013 Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, gehört zu den wichtigsten Führungspersonen in der Gewerkschaft..

© dpa

Hat der pragmatische Regierungschef Kretschmann in der Industrie die Befürchtungen vor einer grünen Regierungsbeteiligung im Bund verscheucht?
Kretschmann ist sicher nicht der typischste Vertreter der Grünen. Und er tritt anders auf als zum Beispiel Annalena Baerbock. Von den bisherigen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg sehen ihn viele als den konservativsten.

Deshalb wurde er dreimal gewählt.
Und er hat acht von zehn Jahren mit einem kräftigen Wachstum im Rücken regiert. Was mir auffällt und was entscheidend ist für die ökologische Transformation von Produkten und Produktionen: Vor allem die SPD, aber auch die Grünen denken die soziale Dimension mit.

Und die Union?
In Teilen auch. Sie vertritt aber hauptsächlich das Thema Technologieoffenheit. Ein bisschen schwingt dabei die Botschaft mit, man könne alles so lassen, wie es ist. Passieren wird das Gegenteil, die ökologische Transformation der Industrie ist nicht aufzuhalten.

2019 hatte die Industrie mit einer leichten Rezession zu kämpfen, dann kamen Corona inklusive Lieferkettenproblematik und der Chipmangel. Wann nimmt denn nun die Transformation richtig Fahrt auf?
Wir sind mittendrin. Die beschäftigungspolitischen Herausforderungen durch die Elektromobilität bekommen wir geballt ab 2025 zu spüren. Dann wird es schwierig für die Unternehmen, die rund um den Verbrennungsmotor tätig sind.

Aber gibt es nicht einen Trend des Re-Sourcing zumindest bei den Konzernen, die sich unabhängiger machen wollen von Zulieferern und mithin Arbeitsplätze schaffen?
Die Wertschöpfungsketten justieren sich komplett neu, insbesondere bei den Antriebssystemen. Ein Betriebsrat bei Daimler, der zuständig ist für ein Motorenwerk, macht natürlich Druck, um Alternativen zum Verbrenner an „seinen“ Standort zu bekommen – dazu gehören auch Aufgaben, die bisher Zulieferer erledigt haben. Vor allem hochspezialisierte, kleinere Lieferanten für den Verbrennungsmotor im Schwarzwald oder auf der Schwäbischen Alb müssen sich komplett umstellen und neu sortieren.

Zu den neuen Produkten gehören Batteriezellen, die sogar Daimler jetzt selbst oder mit Partner bauen will. Auch in Baden-Württemberg?
Darauf werden IG Metall, Betriebsräte und sicherlich auch die Landesregierung drängen. Bei dem Thema geht es aber nicht nur um die Produktion, sondern auch um Technologiebeherrschung und um die Unabhängigkeit Deutschlands von Lieferanten in Asien.

Rund zwei Dutzend Batterie- oder Batteriezellenprojekte sind hierzulande in Arbeit. Bekommt die IG Metall diese Industrie und dazu Zehntausende IT-Kräfte, die es in der Autoindustrie gibt, organisiert?
Ja, bei VW und Daimler haben wir für die neuen Softwarebereiche bereits Tarifverträge abgeschlossen. Die Beschäftigten dort haben zum Teil andere Ansprüche als heutige Beschäftigte in Produktion, Verwaltung und Entwicklung. Individuelle Gestaltungsspielräume und flexible Arbeitszeiten spielen eine große Rolle. Die IG Metall wird für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen gebraucht.

"Wir sind ein zentraler Mitgestalter"

Das ist das Kerngeschäft der Gewerkschaft, aber was sind die über den Alltag hinausreichenden strategischen Ziele?
Das hängt auch von der Präferenz unserer Mitglieder ab. 2017 hat eine große Beschäftigtenbefragung ergeben, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ganz oben stand. Das haben wir aufgegriffen in einem Tarifvertrag mit Wahlrecht : „Geld oder Zeit“ für besonders belastete Gruppen. Unsere große strategische Linie ist eindeutig: Wir brauchen eine soziale, ökologische und demokratische Transformation, damit Deutschland seine industrielle Stärke behält und die Menschen auch in Zukunft sichere Arbeitsplätze haben.

Und welche Rolle spielt die IG Metall?
Wir verstehen uns als sind ein zentraler Mitgestalter und versuchen auf Anzahl und Qualität der Arbeitsplätze einzuwirken. In Baden-Württemberg haben wir dazu ein eigenes Transformationsteam aufgestellt.

Wie funktioniert das?
Die Kolleginnen und Kollegen gehen in die Betriebe und unterstützen die Betriebsräte bei der Transformation. Dabei geht es beispielsweise um Investitionen in Zukunftsprodukte und wie die Beschäftigten dafür qualifiziert werden. Wichtig ist, dass die Interessenvertreter von Beginn an bei diesem Veränderungsprozess mitwirken und mit der Geschäftsführung auf Augenhöhe diskutieren können.

Wird die Transformation die Tarifauseinandersetzung im nächsten Jahr prägen?
Das will ich nicht ausschließen, aber auf Platz Eins der Agenda steht eine lineare Erhöhung der Entgelte. Die letzte gab es 2018, und bei einer aktuellen Inflationsrate von 3,8 Prozent wollen die Beschäftigten zuallererst mehr Geld. Das ist ganz klar das Topthema.

"Zur Industriepolitik gehören Ansiedlungen"

Wie gefallen Ihnen die Programme der Parteien hinsichtlich der Industriepolitik?
Die Notwendigkeit einer nachhaltigen Industriepolitik wurde erkannt, das ist ein Fortschritt. „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“, diese Haltung findet sich nur noch bei Teilen der FDP. Es gibt aber unterschiedliche Akzentuierungen. Technologieförderung, wie sie die Union im Blick hat, ist noch keine Industriepolitik. Wer gefördert wird, muss auch hierzulande Wertschöpfung aufbauen. Zur Technologieförderung muss eine ganz konkrete Ansiedlungspolitik kommen, wie wir das bei der Batteriezelle beobachten und bei der Halbleiterfertigung hoffentlich auch noch sehen werden.

Hat die Stahlindustrie eine Zukunft?
Wir haben vor allem vier Wirtschaftszweige im Blick. Zum einen den Werkzeugmaschinenbau, der stark von der Fahrzeugindustrie abhängt. Die Frage ist, wie sich die hohe Kompetenz in diesem Bereich mit bundes-, landes- und regionalpolitischer Flankierung bewahren und weiterentwickeln lässt. Ferner die maritime Wirtschaft und Luftfahrt und schließlich die Grundstoffindustrie mit dem Stahl. Ohne echte Industriepolitik können wir die Stahlproduktion nicht zu einer CO2-neutralen, wasserstoffbasierten Industrie umwandeln. Die Politik muss helfen, damit sauberer, aber vergleichsweise teurer Stahl auch international wettbewerbsfähig ist.

Es wäre vermutlich effizienter gewesen, wenn die Kaufprämie für Hybridautos in die Stahlindustrie geflossen wäre.
In Deutschland fokussieren wir sehr stark auf den Mobilitätssektor, vor allem auf Pkw. Es geht möglicherweise schneller und ist sehr wirkungsvoll für den Klimaschutz, ein paar Stahlwerke umzurüsten anstatt alle 45 Millionen Fahrzeuge, die auf unseren Straßen unterwegs sind. Das ist aber kein Widerspruch. Das Ziel muss sein, alle großen CO2-Emittenten so schnell wie möglich klimaneutral zu machen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false