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Hans Peter Wollseifer amtiert seit  2014 als Präsident des deutschen Handwerks mit einer Million Betrieben und 5,4 Millionen Beschäftigten. Der Rheinländer ist Malermeister.

© Raphael Krämer

Handwerkspräsident Wollseifer: „So golden war der Boden noch nie“

Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer über Hochkonjunktur und Personalmangel, die Integration von Flüchtlingen und den Meisterbrief.

Herr Wollseifer, die aktuelle Kampagne läuft unter der Überschrift „Ist das noch Handwerk?“ Was soll uns das sagen?

Dass das Handwerk sehr viel moderner und vielfältiger ist, als das landläufig so angenommen wird. Das Handwerk unterliegt ja einem wahnsinnigen Wandel, der vor allem auch mit der Digitalisierung zusammenhängt. Ich war gerade in einem Rolladen- und Jalousienbauerbetrieb: Da geht es längst nicht nur allein um das Anbringen von Jalousien und des zugehörigen Motors, nein, heute geht es um Schall- und Wärmeschutz und die Hausverschattung wird mit einer App gesteuert. In allen Gewerken hält die Digitalisierung Einzug. Es gibt heute Backstuben, die voll digitalisiert sind.

Bäcker will trotzdem keiner werden.
Deshalb machen wir ja mit der Kampagne auf die Modernität in den Betrieben aufmerksam. Den Erneuerungsprozess möchten wir den Jugendlichen, den Eltern und Lehrern nahebringen. Die Klischees über das Handwerk - schmutzig, schwere körperliche Arbeit, schlecht bezahlt - stimmen schon lange nicht mehr.

Löst die Digitalisierung die Nachwuchsprobleme des Handwerks?
Natürlich nicht allein. Berufswahl hat auch viel mit sozialem Image und Anerkennung zu tun. Wir brauchen in der Gesellschaft wieder mehr Wertschätzung und Anerkennung für berufliche Bildung. Das ist das eine. Aber dazu gehört zum anderen eine bessere finanzielle Förderung. Der Bundespräsident, seine Ehefrau und auch die Bundeskanzlerin engagieren sich dafür, der beruflichen Bildung und dem Handwerk zu mehr Wertschätzung zu verhelfen. Das hilft uns.

120 000 Schulabgänger weniger

An den Nachwuchsproblemen ändert das erst mal nichts. 2018 konnten 17 000 Ausbildungsplätze nicht besetzt werden.
Positiv gesehen zeigt das zuallererst einmal die hohe Ausbildungsbereitschaft unserer Betriebe: Sie wollen ausbilden. Und stehen damit im harten Wettbewerb mit allen Wirtschaftsbereichen auf einem schrumpfenden Markt, denn es gibt 120 000 Schulabgänger weniger als vor zehn Jahren. Und fast 60 Prozent eines Jahrgangs wollen inzwischen ins Studium. Wir haben es mit einer Überakademisierung zu tun, die nicht gut ist für unsere Gesellschaft und Wirtschaft. Der Fachkräftesockel, auf dem unsere Wirtschaft basiert, ist ziemlich bröckelig.

Gewerkschaften schlagen ein Pflichtpraktikum für Schüler im Handwerk vor.
Handwerker sind Freidenker, mit Pflicht und Zwang haben wir es nicht so. 28 Prozent aller Jugendlichen werden im Handwerk ausgebildet, und alle Ausbildungsbetriebe bieten Praktika an. Wir gehen in die Schulen, machen Azubi-Speeddatings und haben entsprechende Plattformen im Internet. Wichtiger als eine Praktikumspflicht wäre eine verpflichtende Berufsorientierung, berufskundliche Tage an allen Schulen.

Die Bundesregierung will das Handwerk attraktiver machen, indem sie eine Mindestausbildungsvergütung von gut 500 Euro einführt. Eine gute Sache?
Auch das ist wieder eine Verpflichtung, der es nicht bedarf. Die Festlegung von Ausbildungsvergütungen sollten wir den Tarifpartnern überlassen.

Die Tarifbindung schrumpft, deshalb gibt es ja auch den gesetzlichen Mindestlohn.
Dann sollten wir über das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit die Tarifbindung erhöhen. Was die Mindestausbildungsvergütung betrifft: Glauben Sie mir, unsere Betriebe wollen ihren Azubis natürlich eine attraktive Ausbildung anbieten, auch finanziell. Aber Gewerke und Regionen lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren. Was man sich in einer Region oder einem Betrieb noch leisten kann, das ist anderswo schon zu viel. Ich sehe einfach die Gefahr, dass manche Betriebe nicht mehr ausbilden können. Auf der Strecke bleiben dann vor allem weniger leistungsstarke Jugendliche, die ohne Lehrstelle dastehen. Gut gemeint ist manchmal eben nicht gut gemacht.

Geld lenkt Bildungsströme

Gilt das auch für den Digitalpakt? Oder kommen die Milliarden wirklich in den Schulen, auch in den Berufsschulen an?
Mit Geld lassen sich Bildungsströme lenken. In den vergangenen Jahrzehnten sind immer mehr Mittel in die akademischen Bildungseinrichtungen geflossen, die berufliche Ausbildung wurde vernachlässigt. Heute sind die Berufsschulen in einem erbärmlichen Zustand, was die räumliche und personelle Ausstattung betrifft. Der Bund, der für die berufliche Bildung zuständig ist, versucht eine Menge. Und wir achten darauf, dass die Mittel auch in den Schulen ankommen.

Hat die Politik grundsätzlich erkannt, dass das Duale System schwächelt?
So langsam kommt an, wie wichtig berufliche Bildung ist, damit es gesamtwirtschaftlich läuft. Das merken wir alle und natürlich auch Politiker, denn auch die müssen immer länger auf Handwerker warten. Wir als Handwerk stabilisieren die Wirtschaft, unser Wachstum lag deutlich über dem der Gesamtwirtschaft. Angesichts der internationalen Handelsstreitigkeiten wird das immer wichtiger.

Es läuft noch gut in den Betrieben?
Unsere Konjunktur ist weiter sehr gut. Wenn man vom goldenen Boden im Handwerk spricht, dann ist das der goldenste Boden, den wir jemals hatten. Wir erwarten ein Wachstum um die vier Prozent in diesem Jahr.

250 000 Arbeitskräfte fehlen

Die Kunden müssen wochenlang warten, und die Preise steigen wie verrückt.
Das ganz bestimmt nicht. Die Materialpreise steigen und die Löhne auch. Diese höheren Kosten, die wir zusätzlich zu tragen haben, können wir jetzt in der Preiskalkulation berücksichtigen. Wir sehen derzeit keine Anzeichen für eine Abschwächung der Nachfrage. Im Gegenteil. Die Verknappung an Handwerksleistung und Handwerkern spitzt sich eher zu. Uns fehlen rund 250 000 Arbeitskräfte, jeder zweite Betrieb sucht Leute.

Wir kommt denn die Gründungsinitiative von Politik, Handwerk, DIHK und weiteren Wirtschaftsverbänden in Gang?
Allen Beteiligten ist klar, dass wir die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessern müssen, um die Versorgung mit handwerklichen Produkten und Dienstleistungen sicherzustellen. Deshalb müssen wir die jungen Meister ermutigen: „Eure Arbeit lohnt sich. Ihr werdet zwar 50 oder 60 Stunden in der Woche arbeiten, aber dann habt Ihr auch die Chance, Eure Träume zu verwirklichen, einen eigenen Betrieb aufzubauen oder Euch ein Häuschen leisten zu können.“

Der Appell fruchtet aber offenbar nicht.
Die heutige Generation wächst sehr behütet auf, will die Sicherheit eines festen Einkommens und fester Arbeitszeiten - und meidet vielleicht auch deshalb die Selbstständigkeit. Und dann gibt es da noch all die Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben und den bürokratischen Aufwand. Wenn sich wegen zu hoher Sozial- und Steuerabgaben die Arbeit kaum mehr lohnt und man sich dazu auch noch durch einen wahren Bürokratie- und Vorschriftendschungel kämpfen muss, dann demotiviert das natürlich, sich selbstständig zu machen. Allein die ganzen Initiativen des Bundesgesundheitsministers kosten uns viel Geld.

Zum Beispiel?
Der Bund hat die Verpflichtung, für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher die Krankenversicherungsbeiträge zu zahlen. Er zahlt aber nur knapp ein Drittel. Deshalb bleiben 9,6 Milliarden Euro bei den Beitragszahlern hängen, also 4,8 Milliarden bei den Arbeitgebern und 4,8 Milliarden Euro bei den Arbeitnehmern. Und da im Handwerk der Lohnkostenanteil bei rund 80 Prozent liegt, belastet uns das ganz besonders. Die Politik wird ihrer Verantwortung nicht gerecht – und das untergräbt wiederum das Vertrauen in die Politik.

Für eine Digitalsteuer

Sind die hohen Lohnnebenkosten ein Grund für die vielen Soloselbstständigen?
Das ist ein Grund. Zu Bismarcks Zeiten war es ja in Ordnung, alle Soziallasten über die Löhne zu berechnen. Damals machten Landwirtschaft und Lohnarbeit rund 99 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung aus, heute ist das viel weniger. Im Zeitalter der Digitalisierung gibt es auch Wertschöpfung ohne Menschen. Plattformbetreiber machen riesige Gewinne in Deutschland, beteiligen sich aber nicht an der solidarischen Finanzierung des Gemeinwesens. Wir brauchen dringend eine Digitalsteuer.

Da ist die Politik ja dran, ebenso wie am Fachkräftezuwanderungsgesetz, auf das Handwerk und Industrie drängen.
Vor zwei Wochen beim Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft mit der Bundeskanzlerin galt noch, dass das Gesetz zügig kommen soll. Jetzt aber liegt die Initiative für das Einwanderungsgesetz erst einmal auf Eis. Auch das untergräbt Vertrauen in die Politik.

Aber mit der Flüchtlingspolitik sind Sie einigermaßen zufrieden.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Politik kann mit dem Handwerk sehr zufrieden sein. Wir haben jetzt rund 18 000 Geflüchtete aus den acht häufigsten Asylzugangsländern in der Ausbildung, das sind um die 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Von allen Flüchtlingen, die derzeit eine Ausbildung machen, lernt jeder Zweite im Handwerk. Wir übernehmen diese Integrationsleistung, weil wir das können, doch der Aufwand ist schon enorm – und liegt deutlich höher als bei deutschstämmigen Azubis.

Aufgrund der Sprachprobleme?
Nicht nur. In meinem Betrieb haben wir einen Iraner, der Schlimmes erlebt hat und viele Monate sehr verschlossen war. Da brauchen Sie Geduld und Zeit und persönliche Zuwendung. Wenn sie all das in die Ausbildung eines Flüchtlings stecken, dann wollen sie auch, dass er bleibt und sich das auszahlt - menschlich wie für den Betrieb. Daher müssen die, die bereits hier sind und von uns ausgebildet wurden, auch dableiben können. Alles andere wäre Irrsinn, würde die Motivation der Betriebe zerstören – und wäre auch wieder ein Vertrauensbruch der Politik.

Ohne Meister kaum marktfähig

Es gibt auch schöne Signale aus der Politik: Die Meisterpflicht soll wieder ausgedehnt werden, nachdem 2004 der Meisterbrief in 53 von 94 Berufen abgeschafft worden war.
Das ist sinnvoll, um wieder mehr Qualität, mehr Ausbildung, mehr Verbraucherschutz und ein nachhaltiges Unternehmertum zu bekommen. Denn eine Vielzahl der Betriebe, die häufig Soloselbstständige sind, hat eine begrenzte Marktfähigkeit. Im Schnitt sind Betriebe ohne Meisterbrief nach vier Jahren wieder vom Markt verschwunden. Das ist ein Problem, denn wenn der Betrieb weg ist, dann greifen auch Gewährleistungsansprüche nicht mehr.

Warum verschwinden die so schnell?
Es fehlt Wissen und Kompetenz. Ein Meister hat Fachwissen und betriebswirtschaftliche und kaufmännische Kenntnisse. Der Meisterbetrieb weiß, wie er sich am Markt zu verhalten hat, wie man kalkulieren muss, was in der Buchhaltung zu beachten ist und im Steuerrecht. Dazu kommt Berufs- und Arbeitspädagogik, damit der Meister ausbilden kann. Ein Betrieb ohne Meister kann das alles nicht. Das Gespräch führte Alfons Frese.

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