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Dringend benötigt. Um über die Runden zu kommen, überbrücken die Kliniken ihre Engpässe mit Leihärzten.

© Sven Hoppe/dpa

Nothelfer oder Rosinenpicker?: Ohne Leihärzte kommen Kliniken nicht über die Runden

Leihmediziner können in Kliniken weit mehr verdienen als festangestellte Ärzte. Profitieren sie nur vom Notstand oder sind sie eine Bereicherung fürs System?

Für Marcel von Rauchhaupt begann es vor zweieinhalb Jahren. Er fühlte sich ausgebrannt von seinem Job als Assistenzarzt in Oberhausen, hatte monatlich manchmal bis zu 16 Nachtdienste zu absolvieren – und die Bezahlung war auch nicht üppig. Zumindest reichte sie nicht zur Abzahlung seines Studienkredits. „Ich fühlte mich ausgenutzt“, erzählt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Und dass er damals beschlossen habe, etwas zu ändern. „Ich habe doch nicht Medizin studiert, um kein Familienleben mehr zu haben und mich kaputt zu machen.“

Seither gehört der junge Mediziner mit dem Adelstitel zu den Krankenhausärzten im Land, die sich mal hier, mal dort einklinken und auf diese Weise nicht nur selbstbestimmter arbeiten können, sondern auch deutlich mehr Geld verdienen als ihre festangestellten Kollegen. Viele sind es nicht, aber ganz ohne kommen die Kliniken offenbar auch nicht klar. 

2300 Honorarmediziner waren nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) 2018 im Geschäft – bei 165.000 angestellten Ärzte ein Anteil von gerade mal 1,4 Prozent. Und die Zahl sei rückläufig, sagt DKG-Sprecher Joachim Odenbach. 2012 hätten noch 3.400 Leihärzte unter Vertrag gestanden. Das liege nicht nur an dem wieder etwas nachlassenden Ärztemangel, sondern auch an neuen rechtlichen Regeln. Seit einem Urteil des Bundessozialgericht im Juni 2019 müssen die Kliniken nämlich nun auch für Honorarkräfte Sozialabgaben zahlen.

„Bei uns spielen Honorarmediziner gar keine Rolle mehr“, bestätigt Hans-Jörg Freese von der Klinikärzte-Gewerkschaft Marburger Bund. Zwar griffen bestimmte Krankenhausträger weiterhin „vereinzelt auf Leihpersonal zurück, um in einzelnen Bereichen Engpässe auszugleichen“. Bei den Mitgliedern der Verhandlungskommissionen und auch im Rahmen von Tarifverhandlungen sei das Thema jedoch seit gut zwei Jahren nicht mehr aufgerufen worden.

Weniger Nachfrage durch Corona-Pandemie

Klar, aufgrund der Coronakrise sei der Bedarf schon etwas gesunken, ist in der Branche zu hören. Da die planbaren Operationen wegen der Epidemie jetzt schon wieder heruntergefahren wurden, benötige man momentan eben auch weniger Leihärzte zum Einspringen. Dass die Nachfrage generell sinkt, will Silke Oltrogge aber nicht bestätigen. Sie ist Geschäftsführerin der doctari GmbH in Berlin, nach eigenen Angaben die bundesweit größte Onlineplattform zur Vermittlung von Leihärzten und Leihpflegekräften. 

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2019 seien Ärzte in Zeitarbeit für 4,1 Millionen Stunden verpflichtet worden, bilanziert sie. 3,6 Millionen davon seien in Krankenhäusern geleistet worden, der Rest in Reha-Einrichtungen und ambulanten Praxen.  Zum Vergleich: Bei der Krankenpflege betrug die Zahl der Jahres-Leihstunden 13,7 Millionen, davon 12,7 in Kliniken.

Momentan befänden sich in der Datenbank ihrer vor zwölf Jahren gegründeten Firma gut 25.000 Ärzte und Pflegekräfte, berichtet Oltrogge – „qualifiziert und sofort einsatzfähig“. Die Medizinerquote betrage rund 60 Prozent. Dem stünden in den Kliniken rund 5000 vakante Arztstellen gegenüber. Gesucht würden vor allem Anästhesisten und Ärzte für Innere Medizin, momentan auch Onkologen. Und Fachärzte für psychisch Erkrankte, also Mediziner wie Marcel von Rauchhaupt.

Der 29-Jährige bemerkt bei Kollegen anderer Fachrichtungen, die sich wie er aus dem festen Klinikbetrieb verabschiedet haben, tatsächlich gerade etwas Unsicherheit wegen ausbleibender Verträge. Er selber kann sich über fehlende Beschäftigung aber nicht beklagen. In rund 15 Krankenhäusern war er bereits im Einsatz: Berlin, Stuttgart, Fulda, im Ruhrpott, wo er studiert hat. Und acht bis zehn fragten immer wieder an. Stammkundschaft sozusagen, die weiß, was sie an ihm hat.

Zwei- bis dreimal so viel Gehalt

Er habe „keinen Drang mehr, in eine Festanstellung zurückzugehen“, berichtet der junge Arzt. Man lerne mehr, wenn man in verschiedenen Häusern und deren unterschiedlicher Patientenklientel tätig sei. Und sammle vielfältig Erfahrung. Der Psychiater lacht und sagt: „Wer mal in Duisburg-Marxloh gearbeitet hat, den schreckt Berlin-Neukölln nicht mehr.“ Man müsse als Leiharzt – zweiter Vorteil – nicht ständig Nacht- und Wochenenddienste schieben. Und ja, er verdiene jetzt auch „zwei bis dreimal so viel“ wie vorher.

Höhere Flexibilität muss entsprechend entlohnt werden, findet Doctari-Geschäftsführerin Oltrogge. Deshalb erhielten Honorarmediziner „mindestens so viel wie vergleichbar Qualifizierte in festen Positionen“. Bei großem Bedarf und dem Wunsch nach einem kurzfristig einspringenden Arzt könne es aber schon etwas mehr sein, je nach Fachrichtung und Qualifikation. Und für erfahrene Leihärzte gebe es auch die Möglichkeit, gesondert mit den Kliniken zu verhandeln. Manche, mit denen die Träger besonders zufrieden gewesen seien, würden gezielt und immer wieder geordert. Wobei es die Vorgaben zu beachten gelte. Die maximale Überlassungsdauer betrage 18 Monate. Dazwischen müssten mindestens drei Monate bei anderen Arbeitgebern liegen.

Ins Ausland vermittelt Doctari wegen der unterschiedlichen nationalen Gesetzesbestimmungen nicht. Von dort nach Deutschland allerdings sehr wohl, und hier ist die Quote ist gar nicht so gering: 12,5 Prozent der Honorarärzte stammten aus der Europäischen Union (vor allem aus Rumänien, Polen, Griechenland), 44 Prozent aus Ländern außerhalb des EU-Raumes (vorzugsweise Syrien, Iran, Ägypten, Türkei). Zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik geht es problemlos hin und her. Schließlich hat die Unternehmensgruppe mit ihren 200 Mitarbeitern dort, in Allschwil-Basel, einen eigenen Ableger.

Als Rückkehrmöglichkeit – oder um aus dem Hamsterrad rauszukommen

Die Idee für das Geschäftskonzept kam den Firmengründern in Berlin 2008. Beim Laufen. Christoph Siegmann und Stefan Scherf – beide inzwischen Doctari-Gesellschafter – kannten die Herausforderungen für Beschäftigte des Gesundheitswesens aus ihrem familiären Umfeld. Flexible Arbeitszeiten, ausgeglichene Work-Life-Balance, Vereinbarkeit von Job und Familie: In den starren Schichtsystemen der Branche ist das schwer möglich. Auf der anderen Seite stehen medizinische Einrichtungen mit der Not, gute Fachkräfte zu finden und schnell auf Arbeitsspitzen reagieren zu können. Warum nicht nach Lösungen für beide Seiten suchen?

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2008 startete Doctari in Berlin mit der Vermittlung von 20 freiberuflichen Ärzten. 2010 kam der Standort Hamburg dazu, später auch München. Mittlerweile finden sich rund 5.000 medizinische Einrichtungen auf der Kundenliste – und fünfmal so viele Ärzte und Pfleger, die sich nicht mehr an einen einzigen Arbeitgeber und dessen Vorgaben binden lassen wollen.

Es handle sich dabei nicht nur um junge Mediziner wie Marcel von Rauchhaupt, betont Geschäftsführerin Oltrogge. Das sei alles „bunt gemischt, je nach Lebenssituation“. Man habe beispielsweise auch Ältere in der Datei, die ihre Jobs ausklingen lassen, früher rauswollten „aus dem Hamsterrad“. Oder festangestellte Ärzte, die sich zusätzlich noch anderswohin vermitteln lassen – um Abstand zu bekommen, neue Erfahrungen zu sammeln, vielleicht auch irgendwann besser den Absprung zu finden. Es gebe Leihmediziner, die sich sonst bei den „Ärzten ohne Grenzen“ engagierten und zur Erdung immer wieder mal in deutschen Kliniken jobbten. Oder auch welche, die ihrem Beruf innerlich eigentlich schon den Rücken gekehrt hätten, jetzt in der Corona-Pandemie aber auf Intensivstationen helfen wollten.

Nützlicher „Helikopter-Blick“

Heldengeschichten, die natürlich nicht fehlen dürfen, um das Geschäft zu legitimieren. Aber ist es nicht dennoch so, dass Leihmediziner und ihre Vermittler vom Ärztemangel profitieren, dass sie den Festangestellten die miesen Bedingungen überlassen und sich selber die Rosinen herauspicken? Er wolle das gar nicht bestreiten, sagt Marcel von Rauchhaupt. Vielen gehe es um bessere Bedingungen und ums Geld. Auch gebe es durchaus Honorarärzte, die sich als „was Besseres fühlten“, beispielsweise bestimmte Arbeitgeber ablehnten. Er selber mache das nicht, finde es auch wichtig, dass Klinikbetreiber und Patienten mit ihm zufrieden seien. Auf Vorbehalte von Festangestellten stoße er gleichwohl immer wieder in neuen Arbeitsverhältnissen. Wobei sich das meist gebe, wenn das Verhältnis zueinander persönlicher werde.

Letztlich zähle das Argument, dass Leihärzte die Versorgung sicherten, den Kliniken Flexibilität ermöglichten und auch Festangestellte entlasteten, findet Silke Oltrogge. Dadurch, dass vakante Stellen besetzt würden, könnten andere Beschäftige ebenfalls leichter ins Wochenende oder in den Urlaub. „Wir betreiben ja keine Abwerbung.“ Und die Möglichkeit, unter anderen Bedingungen und an verschiedenen Orten zu arbeiten, halte auch manchen Krankenhausarzt im Job, der sonst, aus gesundheitlichen oder persönlichen Gründen, vielleicht schon längst hingeworfen hätte. Dazu komme, dass Leihmediziner durch ihre Arbeit an verschiedenen Einsatzorten mitunter über eine Art „Helikopter-Blick“ verfügten. Dieser könne für Klinikbetreiber in bestimmten Situationen sehr wertvoll sein, betont die Geschäftsführerin. Auf manche Leihmediziner werde deshalb beispielsweise ganz gezielt beim Aufbau neuer Krankenhausabteilungen zurückgegriffen.

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