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Nichts dreht mehr? Gestörte Lieferketten, Materialengpässe, Inflation, rasant gestiegene Preise bei Vorprodukten und eine bedrohliche Energiekrise schaffen Verunsicherung. Das Ifo-Institut und BFW berichten über eine große Zahl von Auftragsstornierungen.

© Foto: dpa/Jens Kalaene

Wohnungsneubau: Storno auf Kosten des Hauses

Materialknappheit, Inflation und steigende Zinsen: Viele Bauverträge lassen sich nicht mehr umsetzen. Übereilte Kündigungen können teuer werden.

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Der Wohnungsneubau in Deutschland bricht massiv ein. Mehr als vierzig Prozent der ab 2023 geplanten Wohneinheiten stehen wegen der aktuellen Rahmenbedingungen unter einem Stornierungsvorbehalt, werden zurückgestellt oder können nicht wie geplant realisiert werden.

Dies geht aus einer aktuellen Umfrage des Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW) hervor, deren Ergebnisse dem Tagesspiegel exklusiv vorliegen. „Das ist keine Delle beim Neubau, das ist die Vollbremsung einer ganzen Branche“, sagte BFW-Präsident Dirk Salewski dazu in Berlin. Die befragten Unternehmen geben an, dass sie ab 2023 in der Summe 19665 Wohneinheiten planen.

„Es mehren sich aus den Unternehmen Rückmeldungen zu Auftragsstornierungen“, sagt auch Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer Zentralverband Deutsches Baugewerbe. Dass in der deutschen Baubranche im Moment ungewöhnlich viele Projekte storniert werden, meldete überdies das Münchner Ifo-Institut nach Auswertung einer entsprechenden Umfrage. Die Größenordnung sei vergleichbar mit dem Schock im Frühjahr 2020 durch den Ausbruch der Coronapandemie.

Fördermöglichkeiten für nachhaltigen Wohnungsbau werden nicht in Anspruch genommen

Wenn der Mehrfamilienhausbau für sozial schwächere Schichten nicht vorankommt, ist dies von großer sozialpolitischer Brisanz. Auch werden die energiepolitischen Ziele für die Energetik des deutschen Gebäudebestandes, die durch den Ukraine-Krieg ganz besondere Bedeutung erhalten haben, in die Ferne gerückt. Nur sechs Prozent der an der BFW-Umfrage 123 teilnehmenden Unternehmen will zudem die KfW40 QNG-Förderung für nachhaltige Gebäude beantragen; 45 Prozent der befragten Unternehmen verneinten sogar eine Planung mit diesen Mitteln. Im Wohnungsbau bestehe eine Unsicherheit zu künftigen Fördermöglichkeiten, schreibt das Ifo-Institut. Die befragten Unternehmen geben an, aktuell 18425 Wohneinheiten zu errichten; die Hälfte könnte gefördert werden.

Lieferengpässe führen zu massiven Preissteigerungen

Derweil führen Lieferengpässe beim Material zu rasanten Preissteigerungen. Auch die hohen Energiepreise belasten. Besonders betroffen sind die Erzeugerpreise für Holz, Stahl und Dämmmaterial. Diese Baustoffe sind gerade für den sozialpolitisch wichtigen Wohnungsneubau relevant. Bereits vor dem Beginn des Ukraine- Kriegs lagen die Erzeugerpreise für Konstruktionsvollholz und Bauholz pandemiebedingt und aufgrund hoher Nachfrage aus den USA auf Höchstniveau. Baustahl und Dämmstoffe, die zur Erreichung der energetischen Vorgaben im Wohnungsbau unerlässlich sind, sind kaum noch bezahlbar. Die aktuellen Baupreisindizes für Wohngebäude (Neubau, konventionelle Bauart) und für Straßenbau (Ingenieurbau) des Statistischen Bundesamts zeigen steil nach oben. Es verzeichnete Baupreissteigerungen beim Wohnungsneubau im Mai 2022 von 17,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Die Preisentwicklung bei den Baustoffen und steigende Finanzierungskosten bremsen Projektplanungen und Umsetzungen nun teilweise aus“, sagt Pakleppa. Die vom BFW befragten Unternehmen geben an, dass sie im Durchschnitt Preissteigerungen in Höhe von 19 Prozent haben.

Noch ist die Auftragslage gut

Immerhin sind die Auftragsbücher laut Ifo im Mittel weiterhin prall gefüllt. „Handwerker können sich meist vor Aufträgen kaum retten, doch das Material ist knapp“, sagt der Berliner Makler Achim Amann, Geschäftsführer Black Label Immobilien und Vorstandsmitglied im IVD Berlin-Brandenburg: „Aufgrund der geopolitischen Lage wird es hier kurzfristig kaum Besserung geben.“ Ausführende Firmen geraten hierdurch in die Klemme; sie geben diese Kosten an ihre öffentlichen, gewerblichen und privaten Bauherrn weiter. „ Für einen Neubau müssen wir heute mit Kosten von etwa 3000 Euro pro Quadratmeter rechnen“, sagt Amann, „für ein Einfamilienhaus mit 150 Quadratmetern Wohnfläche sind also rund 450 000 Euro nötig, plus Bauland und Nebenkosten. Doch monatliche Raten von weit über 2500 Euro sind für die meisten Käufer kaum noch darstellbar. Im mittleren Segment erleben wir deshalb gerade viele Stornierungen von Bauträgern und Projektentwicklern. Neue Projekte werden praktisch nicht mehr realisiert.“ Die Nachfrage geht zudem dramatisch zurück. 74 Prozent der befragten BFW-Mitgliedsunternehmen stellten einen Nachfragerückgang fest.

Die Zahl der Baugenehmigungen ist 2022 massiv eingebrochen

Im Ein- und Zweifamilienhausbau gehen die Baugenehmigungen massiv zurück. In neu zu errichtenden Wohngebäuden wurden von Januar bis Mai insgesamt 135133 Wohnungen genehmigt und damit 1,5 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Ein deutliches Minus von 17,8 Prozent auf 34 809 gab es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei Einfamilienhäusern. Die Zahl der Baugenehmigungen ist mit Blick auf die Wohnungsnot in vielen Städten ein wichtiger Indikator. Sollte dieser Trend anhalten, „werden wir schon bald eine tiefe Delle in der Baukonjunktur sehen“, warnte Pakleppa.

70 Prozent der vom BFW befragten Mitgliedsunternehmen geben an, sie werden die Hälfte der geplanten Projekte unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht mehr realisieren. Hochgerechnet bedeute das einen Rückgang zwischen 50000 und 75000 neuen Wohnungen, so die Interessenvertretung. Die Ziele der Bundesregierung von 400000 Neubauwohnungen pro Jahr seien so nicht ansatzweise zu erreichen.

Saison- und kalenderbereinigt fiel die Zahl der Baugenehmigungen im Mai 2022 im Vergleich zum Vormonat um 6,6 Prozent. Die Folgen der Inflation, der Energiekrise und der gestörten Lieferketten haben den Bau nun erreicht.
Saison- und kalenderbereinigt fiel die Zahl der Baugenehmigungen im Mai 2022 im Vergleich zum Vormonat um 6,6 Prozent. Die Folgen der Inflation, der Energiekrise und der gestörten Lieferketten haben den Bau nun erreicht.

© Sven Hoppe/dpa

Zu den kräftig gestiegenen Baupreisen kommen die – ebenfalls kräftig gestiegenen – Immobilienpreise (für Bauland wie für sanierungsbedürftige Bestandsobjekte) und die deutlich erhöhten Zinsen hinzu. Neue Bauprojekte werden deshalb erst einmal zurückgestellt. Die zeitliche Verschiebung, d. h. die Zurückstellung geplanter Bauprojekte ist eine Sache. Ganz prekär wird es für öffentliche, gewerbliche und private Bauherrn, wenn bereits beauftragte Bauprojekte die budgetierten Kostengrenzen überschreiten. Laut Ifo-Institut betrug der Anteil der von Stornierungen von Bauaufträgen betroffenen Unternehmen im Juni 2022 11,5 Prozent, im Mai 2022 13,4 Prozent. Im Tiefbau wurden im Juni 2022 neun Prozent und im Mai 8,8 Prozent der Bauaufträge storniert.

Storno ist kein Rechtsbegriff

Geht das einfach so – stornieren? Der Begriff „Storno“ kommt aus dem Italienischen und ist kein Rechtsbegriff. Italienisch „stornare“ heißt „rückgängig machen“. Das Rechnungswesen versteht hierunter die Rückgängigmachung eines fehlerhaft verbuchten Geschäftsvorfalls. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) wie auch die VOB/B (Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen) kennen den harmlos klingenden Begriff nicht. Rechtlich ist vielmehr genau zu differenzieren.

Rechtlich sind – und darauf kommt es an – mit der einseitigen Lossagung vom Bauvertrag in aller Regel kostspielige Rechtsfolgen für den Auftraggeber verbunden. Vom Auftraggeber erteilte Aufträge und Bestellungen sind bindende Vertragsangebote oder Vertragsannahmen. Sie führen beim Auftragnehmer zu einem wirksamen Vertrag, wenn sie ihm zugegangen sind. Ein Widerruf ist ab Zugang nicht mehr möglich.

Einzige Ausnahme hiervon ist der nicht beurkundete Verbraucherbauvertrag, der nach seinem Abschluss vom Verbraucher binnen 14 Tagen widerrufen werden kann. Von dieser Ausnahme abgesehen stellt die Stornierung eines abgeschlossenen BGB- oder VOB/B-Bauvertrages durch den Auftraggeber eine Kündigung dar. An dieser Stelle gilt es besonders aufzupassen. Denn Kündigungen von BGB- oder VOB/B-Bauverträgen ohne Kündigungsgrund sind für den Auftraggeber regelmäßig teuer. Wenn der Auftraggeber den BGB- oder VOB/B-Bauvertrag einseitig ohne Kündigungsgrund kündigt, muss er den vertraglich vereinbarten Preis komplett entrichten. In Abzug gebracht werden allein die ersparten Aufwendungen des Auftragnehmers.

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Ersparte Aufwendungen des Auftragnehmers sind solche Kosten, die der Auftragnehmer durch die vorzeitige Vertragsbeendigung nicht mehr hat. Dies ist zum Beispiel das im Kündigungszeitpunkt noch nicht verbaute Material, wenn es sich durch den Auftragnehmer anderweitig verwenden lässt. Ferner das nicht mehr benötigte Personal, wenn es vom Auftragnehmer auf anderen Baustellen beschäftigt werden kann. Sind die ersparten Aufwendungen nicht konkret bezifferbar, wird vom BGB vermutet, dass dem Auftragnehmer fünf Prozent der auf den nicht erbrachten Teil der Werkleistung entfallenden Vergütung zustehen. Eine solche Vermutung kennt die VOB/B nicht.

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Ganz anders ist die Situation, wenn der Auftraggeber einen BGB- oder VOB/B- Bauvertrag aus wichtigem Grund, d. h. mit Kündigungsgrund, kündigt: Dann hat der Auftraggeber dem Auftragnehmer nur die bis zum Kündigungszeitpunkt erbrachten Leistungen zu bezahlen. Die – häufig teure – Vergütung für die nicht mehr erbrachten Leistungen des Auftragnehmers wird vom Auftraggeber nicht geschuldet.

Die Frage ist nun: Begründen die erheblichen Baupreissteigerungen, die der Auftragnehmer an den Auftraggeber weitergibt, für den Auftraggeber einen Kündigungsgrund? Auch hier ist zu differenzieren: Wenn im BGB- oder VOB/B-Bauvertrag ein Festpreis vereinbart ist, dann kann der Auftragnehmer seine Material-, Kraftstoff- und sonstige Energiekosten in aller Regel nicht an den Auftraggeber weitergeben. Versucht der Auftragnehmer dies unzulässigerweise trotzdem, so muss der Auftraggeber dies abwehren. Ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund wird für den Auftraggeber hierdurch nicht begründet. Soweit die Theorie.

Lücken in der Baubeschreibung werden akribisch gesucht

In der Praxis ist es so, dass viele Bauverträge mittlerweile Preisgleitklauseln enthalten. So behält sich der Auftragnehmer die Weitergabe der Steigerung der Materialkosten an den Auftraggeber vor. Der Auftragnehmer ist dann vertraglich berechtigt, die Preise zu erhöhen. Viele Baupreiserhöhungen folgen auch aus (berechtigten oder unberechtigten) Nachtragsverlangen der Baufirmen. Eine besondere Kostenfalle für den Auftraggeber sind Lücken oder Unklarheiten in der Baubeschreibung.

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Diese Lücken oder Unklarheiten werden gerade jetzt von Auftragnehmern mit besonderer Akribie gesucht. Ist der Auftragnehmer aufgrund solcher Umstände berechtigt, die vertraglich vereinbarten Baupreise zu erhöhen, so erwächst hieraus – und dies ist relevant – kein wichtiger Kündigungsgrund für den Auftraggeber. Kündigt der Auftraggeber aufgrund der Preissteigerung den Bauvertrag trotzdem, so hat er die gesamten vereinbarten Leistungen, egal ob erbracht oder nicht, zu bezahlen. Abgezogen werden allein die ersparten Aufwendungen des Auftragnehmers. Dies ist in aller Regel sehr teuer.

Ein möglicher Ausweg: Die einvernehmliche Vertragsauflösung

Was tun? Der Auftraggeber kann in dieser Situation anstelle einer Kündigung versuchen, mit dem Auftragnehmer einvernehmlich eine Vertragsaufhebung zu erreichen. Dies ist oft möglich. Denn gestiegene Materialpreise, hohe Treibstoff- und Energiekosten sowie die gestiegenen Zinsen und Bauland- und Gebrauchtimmobilienpreise belasten Auftragnehmer und Auftraggeber gleichermaßen. So ist oft eine einvernehmliche Aufhebung des Bauvertrages sinnvoll. Der Auftraggeber wird hier vielfach noch Zuzahlungen leisten müssen. Diese sind aber regelmäßig günstiger als die Zahlungsansprüche des Auftragnehmers nach einer einfachen Kündigung des Auftraggebers ohne Kündigungsgrund. Auftraggeber und Auftragnehmer sind ferner gehalten, bei Neuabschlüssen von Bauverträgen die Fragen von Krisen und Krieg möglichst genau und ausgewogen zu regeln.

Öffentliche, gewerbliche und private Auftraggeber müssen ferner – wenn irgend möglich – ihre Bautätigkeit, vor allem im Wohnungsneubau fortsetzen. „Wir bauen seit Jahren viel zu wenig und häufig das Falsche“, twitterte BFW-Präsident Salewski: „BR (Bundesregierung, d. Red.) stoppt alle Förderprogramme, Länder verkomplizieren die Bauordnung und Kommunen weisen kein Bauland aus, aber alle wundern sich, dass Preise und Mieten steigen. Komische Lernkurve.“

Der promovierte Co-Autor Frank Stollhoff ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht in der Berliner Kanzlei TSP Theißen Stollhoff & Partner (www.ts-law.de)

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