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In der Bay von San Francisco setzt man auf digitale Lösungen gegen den Stau.

© picture alliance / EPA

Stadtplanung und Verkehr: San Francisco macht’s vor – Pendeln ohne Auto

In Berlin verstopfen Autos täglich die Einfahrtsstraßen. Dabei geht modernes Pendeln längst anders.

Berlin soll 2035 über vier Millionen Einwohner zählen – derzeit sind es rund 3,7 Millionen. Das Wachstum stellt die Infrastruktur der Stadt auf die Probe: volle Bahnen und Straßen sowie Staus werden nicht ausbleiben. Die US-Metropole San Francisco löst ihr Wachstumsproblem inzwischen in ganz eigener Manier, wie der folgende Beitrag zeigt.

In Deutschland waren wir es jahrzehntelang gewohnt, die Verkehrsverhältnisse in den amerikanischen Städten nur als Schreckensbild wahrzunehmen: achtspurige Highways durchschneiden das Stadtbild, es gibt praktisch keinen öffentlichen Nahverkehr, Menschen zu Fuß werden von der Polizei angehalten. Doch, die Zeiten haben sich geändert. Die Bucht von San Francisco, das Powerhouse der digitalen Revolution, das Lifestyle-Labor der amerikanischen Postmoderne wird zum Modell für die Verkehrswende: amerikanischer, individueller, fröhlicher, schneller und natürlich, digitaler.

„Shared Mobility“ ist eigentlich nichts Neues. Mitfahrzentralen etwa gibt es schon seit vielen Jahrzehnten. Neu aber ist die Verbindung von Sharing mit digitalen Informationen und künstlicher Intelligenz, ein „Game Changer“, ein neues Gebräu. In der Bay von San Francisco und dem Silicon Valley hat diese Verbindung zu mehr katalytischen Reaktionen geführt als anderswo. Da San Francisco von ziemlich weit unten startet, sind die absoluten Zahlen für den Umweltverbund noch schlechter als in Berlin, die Stadt führt aber bei der Geschwindigkeit der Veränderungen.

Das Problem der letzten Meile

UBER und Lyft, zwei weltweit aktive Giganten auf dem Markt für gemeinsam genutzte Fahrzeuge und Mobilitätsangebote, haben ihren Sitz in San Francisco, GoogleMaps sitzt wenige Kilometer weiter südlich im Silicon Valley. Aus kleinen Anfängen wurden große Firmen. Lyft, erst 2012 gegründet, hat inzwischen einen Marktwert von 10 Milliarden Dollar, deckt 95 Prozent der amerikanischen Wohnsitze ab, realisiert über eine halbe Milliarde Fahrten im Jahr und hat im Sommer auch das größte amerikanische Fahrradverleihsystem Motivate übernommen. Ein Vorbild für die Gründung waren anfangs die Sammeltaxis in Zimbabwe. Deshalb nannte der Gründer seine Firma in den ersten zwei Jahren auch noch Zimride.

UBER ist drei Jahre älter und mehr als fünfmal größer. Es hat im Frühjahr das Fahrradverleihsystem JumpBykes geschluckt. Beide Firmen bieten neben den OnDemand-Ride-Services mit LiftLine und UBERPool auch echte Sammeltaxidienste an. Monatlich entstehen neue Angebote von Essenslieferservices über Kurierdienste bis zum Scootersharing. Diese Dienstleistungen haben das traditionelle Taxigewerbe zusammenschrumpfen lassen. Dafür werden sie in Deutschland bekämpft, breiten sich aber gleichwohl aus.

Ihr Wachstum löst endlich das Problem, wie man von der Bahn „die letzte Meile“ bis nach Hause oder ins Büro kommt. Fahrer und Passagiere lernen sich vor der Fahrt digital kennen und können sich gegenseitig nach der Fahrt bewerten. Gleichwohl gibt es Kritik, weil die neuen Dienstleistungen nicht nur auf Kosten des privaten Autobesitzes sondern auch auf Kosten des traditionellen ÖPNV wachsen. Eine weitere digitale Innovation ist die Bikelink App, die Zugang zu den Fahrradkäfigen an den Bahnstationen gibt.

Entlastung hier, Belastung da

Eine Voraussetzung für das Wachstum von UBER und Lyft waren die modernen Navigationssysteme. Eine genaue Straßenkenntnis ist für die Fahrer schlicht nicht mehr notwendig. Die erste Generation der Navigationssysteme mit geladenem Kartenmaterial ist in den letzten Jahren zunehmend durch mobile Apps ersetzt worden, deren Echtzeitanalysen des Verkehrs und der Reisezeiten immer besser werden. In der Bay ist das Smartphone schon lange das wichtigste Navigationsgerät, die Flatrate macht die Online-Navigation erschwinglich.

Die Erfindungen kommen unter anderem aus dem Institut für Verkehrsforschung der UC Berkeley, des größten Instituts seiner Art in den USA. Ein Pionier der Umsetzung war die israelische Firma WAZE, die aber schnell von Google geschluckt wurde: GoogleMaps ist heute Marktführer. Die bisher stationären Navigationssysteme (TomTom, Here …) haben alle nachgezogen und bieten ebenfalls aktuelle Stau- und Blitzerwarnungen sowie laufend aktualisierte Umleitungen an. Waze ist bei der Verkehrslenkung besonders kreativ und radikal und wird zu Recht dafür kritisiert, dass vormals ruhige Nebenstraßen und ganze Stadtviertel nun unter dem Ausweichverkehr leiden.

Es gibt in der Bay inzwischen Gruppierungen, die in manchen Stadtvierteln durch gezielte Desinformationskampagnen die Navigationssysteme täuschen, um auf diese Weise eine Fahrt durchs Viertel zeitlich unattraktiv erscheinen zu lassen. Es ist klar, dass die neuen technischen Möglichkeiten neue technische Antworten und staatliche Regulierungen für die Streckenempfehlungen der Navigationssysteme erfordern. Die städtische Verkehrsbehörde braucht zudem vollen Zugang zu den aggregierten Verkehrsdaten, um die eigene Verkehrslenkung, etwa durch flexible Ampelschaltungen zu steuern.

Die Rettung der "Cable Cars"

Dass die Bay bei der digital unterstützten Mobilität führt, war zu erwarten. Sie ist aber auch beim klassischen ÖPNV inzwischen vorbildlich. Dafür haben nicht zuletzt die Bürger in vielen Volksabstimmungen gesorgt, die in der der kalifornischen Verfassung verankert sind. Einen ersten wichtigen Sieg errangen sie bereits 1947, als der damalige Bürgermeister von San Francisco, Roger Lapham, die traditionellen „Cable Cars“ aus sicherheitstechnischen Gründen abschaffen und durch Busse ersetzen wollte.

Damals gründete Friedel Klussmann, eine Bürgerin der Stadt, das „Citizens' Committee to Save the Cable Cars“, das sich vor allem auf knapp 30 Frauenvereine in der Stadt stützen konnte. Sie setzte innerhalb kurzer Zeit durch Sammlung von rund 50 000 Unterschriften einen Bürgerentscheid durch, der im November des Jahres 1947 für die Erhaltung der Cable Cars sorgte.

Ohne Friedel Klussmann, aber auch ohne diese direktdemokratische Struktur in Kalifornien würde es die Cable Cars heute nicht mehr geben, denn alle Verkehrsexperten der damaligen Zeit hielten das System für nicht mehr zeitgemäß oder, wie es Frau Klussmann in typisch kalifornischer Ironie ausdrückte: The only ones in favour of the cable cars were the people. Auch nach der damaligen Abstimmung versuchte die Stadt, das altmodische Verkehrsmittel loszuwerden, doch seit 1964 steht es unter Denkmalschutz.

Es folgte in den 1980er und 1990er Jahren eine Reihe weiterer Bürgerentscheide zur Einrichtung der Metro, welche die alte Straßenbahn integrierte und ausbaute, des S-Bahn-ähnlichen Schnellverkehrs BART, des Schnellbussystems und, besonders wichtig, 1999 der Qualitätsgarantien für den öffentlichen Verkehr, insbesondere der Pünktlichkeit. Im Jahr 2002/2010 folgte mit der ClipperCard eine multimodale Mobilitätskarte, auf die Berlin noch wartet.

Die goldenen Zwanziger

Bei allen Stationen der U- und S-Bahn informieren Bildschirme sekundengenau über Zugfolge und Fahrzeiten. Die Wiederbelebung der Personenfähren über die Bay macht die morgendliche Anreise zu einem Erlebnis. Der Autoverkehr wird durch hohe Parkgebühren und ein rigides Parkraummanagement gesteuert. Eine Parkkarte für den Campus der UC Berkeley kostet zwischen 120 und 150 Euro – im Monat. Billiger wird es nur durch Car-Pooling Parkkarten, bei der sich zwei Autobesitzer eine Karte teilen. Hinzu kommen die Car-Pooling Spuren auf vielen Autobahnen in der Bay, die nur mit zwei oder sogar drei Fahrgästen genutzt werden dürfen.

In San Francisco besitzt - für amerikanische Großstädte unerhört - 30 Prozent der Haushalte kein Auto. Die rund 500 000 Pendler kommen zu knapp 60 Prozent nicht mit dem eigenen Auto oder in Fahrgemeinschaften. Bei den Autos gibt es einen schnell wachsenden Anteil von Hybriden und vollelektrischen Fahrzeugen. Ansonsten sieht man vor allem japanische und deutsche Automarken, während sich amerikanische Hersteller aus der Produktion von klassischen Limousinen zurückziehen.

In der Stärkung des klassischen ÖPNV ist San Francisco von Los Angeles sogar noch überholt worden. Seit 1990 wächst dort die kombinierte U- und Straßenbahn mit inzwischen über 90 Stationen. Eine neue Behörde, die METRO, sorgt für die Verbindung mit den Schnellbussen (auf eigenen Trassen) und der S-Bahn (Metrolink). Vor zwei Jahren wurden 28 große Verkehrsprojekte in Angriff genommen, die bis zu den Olympischen Spielen 2028 fertig werden sollen.

Großes Vorbild Fernost

Heute orientiert sich die Verkehrspolitik wieder an den „goldenen“ Zwanziger Jahren mit dem damals weltgrößten Straßenbahnnetz. Gleichwohl erstickt Los Angeles noch immer im Stau. Der Tesla-Gründer Elon Musk schlug deshalb im Dezember 2016 vor, Los Angeles mit einem Tunnelsystem für den schnellen Autotransport zu beglücken. Zwei Tage später fragte er beim Bürgermeister an, ob man dafür eine Genehmigung brauche, er wolle bald losbohren. Immerhin weihte er am 18. Dezember die ersten drei Kilometer eines Testtunnel in der Gemeinde Hawthorne in Los Angeles ein.

Weitere radikale Innovationen sind das autonome Fahren – auf dem Campus der UC Berkeley gehören kleine autonome Lieferfahrzeuge inzwischen zum Alltag – und die Entwicklung von Drohnen für den Lieferservice, kurz: es gibt viele technische Lösungen für ein im Kern technisches Problem.

Aus Berliner Sicht beeindruckt die Geschwindigkeit, mit der diese neuen Lösungen angegangen und eingeführt werden. Doch San Francisco dagegen blickt nicht selbstbewusst nach Berlin, sondern wissbegierig über den Pazifik nach Shanghai und bewundert die dort noch einmal radikal gesteigerte Geschwindigkeit in der Einführung nachhaltiger Innovationen für den Stadtverkehr. Die Shanghaier U-Bahn – 1995 wurde die erste Linie eingeweiht – hat inzwischen 22 Linien mit 637 km Länge, zeitweise waren über 100 U-Bahnstationen gleichzeitig im Bau.

Hans-Liudger Dienel, Professor für Arbeitslehre, Technik und Partizipation an der TU Berlin leitet dort u. a. den Studiengang „Sustainable Mobility Management“. Professor Alexandre Bayen leitet das Institute of Transportation Studies der University of California, Berkeley und hat dort den Liao-Cho Innovation Endowed Chair im Department for Civil and Environmental Engineering.

Alexandre Bayen, Hans-Liudger Dienel

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