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Die Zentrale des nationalen Gasversorgers in Iran. Für diesen Entwurf bekamen Eike Becker Architekten und Hadi Teherani Architects den ersten Preis in einem internationalen Wettbewerb.

© Eike Becker_Architekten

Städtebau und Einzelhandel: Krisen öffnen neue Räume

Dichtere Städte sind bessere Städte, meint der Berliner Architekt Eike Becker. Ein Gespräch über lebendige Erdgeschosse und Gründerzeitviertel

Herr Becker, wir sprechen im Jahr des 100-jährigen Bestehens von Groß-Berlin und 75 Jahre nach Kriegsende. Mit Corona stehen Großstädte wieder vor einem Umbruch. Was lässt sich aus früheren, ähnlichen Phasen, die Berlin durchlebt hat, lernen?

Das ist eine tolle Frage! In Umbruchphasen kann man lernen, dass man den Umbruch auch bewältigen kann. Umbrüche stellen das Bisherige infrage. Das führt zu Neubewertungen und zwingt zu möglicherweise radikaleren Antworten. Das wird auch in der Pandemie so sein.

Wie weit ist eine Stadt denn plan- und wandelbar? Das soziale Zusammenleben muss ja auch seine Entsprechung finden in einer Stadtstruktur.

Städte sind jeweils Abbilder ihrer Gesellschaften. Wenn sich die Gesellschaften verändern, verändern sich auch die Städte. Wie wir arbeiten, wohnen, kommunizieren, einkaufen und wie wir unsere Freizeit verbringen, bildet sich im Stadtkörper ab. Städte entstehen zwar in längeren Zeiträumen, aber diese Krise zeigt auch, wie schnell alles anders sein kann.

„Der Spiegel“ publizierte vor einigen Wochen eine Story über den „Totentanz in der City“. Hauptthese: Die Coronakrise beschleunigt das Sterben der Innenstädte bzw. Geschäftsstraßen. Restaurants und Kneipen darben, Malls haben deutlich weniger Besucher, Bürokomplexe werden obsolet, wenn mehr und mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Die wirtschaftlichen Folgen sind beträchtlich. Doch was wird aus der Gebäudestruktur – wie funktioniert Stadtumbau?

Schon seit Langem stellt sich die Frage, wie Erdgeschosse genutzt werden können, damit sie Menschen besser zusammenbringen. Was mich in diesem Zusammenhang interessiert, sind Überkreuzungen. Wir sehen das bereits im Bürobau. Was passiert, wenn da mal die Prinzipien vom Hotelbau mit dem Bürobau gekreuzt werden? Oder Büro und Wohnen oder Wohnen und Hotel? Oder Ladenfläche und Büro, Wohnen, Kantine, Sport, Café, Seminar, Werkstatt, Atelier, Sharing-Hub, usw.? Dabei kommen an den Rändern und den Überlappungen interessante und vielleicht neuartige Konstellationen zustande. Vorrangig mit dem Ziel, lebendige, abwechslungsreiche Erdgeschosse zu bekommen, in denen Menschen sich begegnen. Da sind neue Ideen gefragt. Innenstädte, Quartiere, Plätze, Straßen könnten zum Beispiel von Quartiersmanagern kuratiert werden und Erdgeschossflächen nach Konzept vergeben.

Es wird also einen stärkeren Nutzungsmix geben?

Der Einzelhandel tut sich schwer, ist mächtig unter Druck durch den Internethandel. Also, wie geht Lebendigkeit im Erdgeschoss auch anders? Vielleicht sogar besser? Wir realisieren gerade im Hafen von Offenbach ein Projekt, ein Holzmodulbau. Auf diesem Hafengelände gibt es einen bestehenden Boxclub, ein gemeinnütziger Verein, der sich um Jugendliche kümmert. Die integrieren wir jetzt im neuen Gebäude und auf dem Gelände. Es gibt einen neuen, öffentlichen Platz, der vom Boxclub betreut wird mit Boxring, Fitnessgeräten, Tischtennisplatten und Getränkeausschank für die gesamte Nachbarschaft. Natürlich gibt es auch Büros darüber. Diese Art von Mischung führt dazu, dass das Gebäude für alle viel nützlicher sein kann, als wenn es ein reines Bürogebäude wäre.

Eike Becker, geboren 1962 in Osterholz- Scharmbeck, hat in Aachen, Paris und Stuttgart studiert. 1999 gründete er sein Architekturbüro, das unter anderem den Neubau „Zirkus“ neben dem Berliner Ensemble entworfen hat.
Eike Becker, geboren 1962 in Osterholz- Scharmbeck, hat in Aachen, Paris und Stuttgart studiert. 1999 gründete er sein Architekturbüro, das unter anderem den Neubau „Zirkus“ neben dem Berliner Ensemble entworfen hat.

© Eike Becker_Architekten

Sie sind weltweit tätig, leben aber in Berlin und kennen hier die lokalen Quartiersentwicklungen. Der Eigentümer und Projektentwickler des Pankower Tors wurde bisher nicht zur Schaffung eines nachhaltig organisierten Stadtquartiers verpflichtet. Das lässt sich auch für das neue Gewebequartier auf dem Areal der alten Reemtsma-Fabrik sagen. Es ist nicht zu erkennen, dass Errichter von Neubauten künftig Solardächer wie in Wien realisieren müssen. Über das Siemens-Quartier weiß man nichts Genaues. Welche Quartiersentwicklung in Berlin würden Sie als gelungen betrachten, gefragt nach dem Zeitraum der vergangenen 100 Jahre?

Worauf ich mich immer gerne beziehe, ist der Park am Gleisdreieck. Wenn man zu verschiedenen Tages-  oder Wochenzeiten hingeht,  dann sieht man die unterschiedlichsten Leute, die diese Räume nutzen. Das gefällt mir. Das ist eine neue Art des öffentlichen Raumes und auch eine Weiterentwicklung bekannter Typologien,  wie zum Beispiel der Tiergarten, Ich liebe meine Fahrten morgens und abends durch diesen wundervollen öffentlichen Park. Aber der Tiergarten ist in diesem Vergleich untergenutzt. Man hat dort  Wiesen, auch Wildblumenwiesen, Alleen, Sichtachsen, Bäume – aber im Park am Gleisdreieck ist das alles dichter, lebendiger, intensiver, abwechslungsreicher und für viel mehr Menschen gleichzeitig nutzbar.

Also würden Sie den Tiergarten gerne noch mit einigen Wohnbauten zieren?

Ich würde dafür keinen Quadratmeter Parkfläche geben. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass Berlin dichter sein müsste. Das wird sicher kontrovers diskutiert. Aber um Städte besser zu machen, müssen sie dichter werden.

Ihr Büro hatte gemeinsam mit Hadi Teherani Architects (Hamburg) den Zuschlag für den neuen Hauptsitz der National Iranian Gas Company bekommen. Unter anderem soll ein 200 Meter hoher 40-Geschosser entstehen. Ist das die Zukunft auch europäischer Großstädte?

Was die Verdichtung angeht: ja. Hochpunkte gehören dazu. Die deutschen Städte denken sich seit Jahren zu klein, zu wenig radikal, zu kurzfristig, zu wenig innovativ. Für eine größere Dichte gibt es sehr gute ökonomische, ökologische, politische und soziale Gründe. Wenn wir Grundstücke, die jetzt bereits bebaut sind, einfach nur doppelt so hoch bebauen würden, könnten wir im Zusammenspiel mit besseren öffentlichen Räumen eine höhere Lebensqualität schaffen. Denn in Wirklichkeit sind die Menschen vor allem an Menschen interessiert – sie wollen anderen Menschen begegnen. Und das geschieht in der Regel im Erdgeschoss und im öffentlichen Raum. Da reicht eine Platzfläche, die nur gepflastert und ansonsten unbespielt ist, nicht aus. Wir müssen sehen, dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen ihre Nutzungsbedürfnisse auch ausleben und teilen können.

Die Nähe ist sicher in diesen Zeiten noch mehr gewünscht als ohnehin. Aber wie lässt sich das machen? Viele Neubaugebiete gleichen einander. Die Gründe für diese gebaute Ödnis sind vielfältig, wie Fachleute sagen. Wirtschaftliche Interessen der Bauträger spielen ebenso eine Rolle wie Behörden, Politiker und die dominierende Fraktion der Modernisten. Führt die Art, wie wir Städtebau betreiben, zum Ziel – wenn das Ziel eine nachhaltige Urbanität ist?

Ja, da kann man sich die Haare raufen. Unsere Baugesetzgebung ist immer noch geprägt von eigentlich alten, also modernen Grundsätzen: Licht, Luft für alle. Die Coronastadt ist die moderne Stadt. Mit ganz viel Abstand. Aber das ist nur bedingt die nachhaltige Stadt und nicht die Stadt, die Begegnungen fördert und Menschen auf soziale Weise leicht zusammenbringt. Wir errichten gerade einen Bau für eine Genossenschaft in der Gropiusstadt. Da können wir ein Parkhaus unterirdisch legen und gewinnen Platz für ein kleines 60-Meter-Hochhaus, mit Pavillongebäuden rundherum. Auch die Grünanlage dort wird neu gemacht und an die veränderten Bedürfnisse der Nachbarn angepasst. Denn die Kinder, die dort einmal gespielt haben, sind längst aus den kurzen Hosen herausgewachsen. Es wird auch einen „Kümmerer“ geben, der nachbarschaftliches Leben unterstützt. Und auch mal einen aaffee ausschenkt. Auch eine Gemeinschaftsküche und einen Nachbarschaftsraum wird es geben. Es gibt viele dieser ambitionierteren Projekte, die Nachbarschaften neu denken.

Das sind notwendige Reparaturen an bestehenden Strukturen, die sicher notwendig sind. So wie es auch Dachaufstockungen gibt. Aber wie lässt sich das Versagen im Städtebau beenden, wenn man mit Blick auf Berlin feststellt, dass Menschen lieber in den gewachsenen Altbauquartieren wohnen, die Haus für Haus entstanden sind, als beispielsweise in Großsiedlungen wie der Gropiusstadt?

Das Prinzip des Reparierens mag ich gerne. Weil es so Schritt für Schritt die Welt besser machen kann. Das ist im Städtebau geradezu ein Grundprinzip. Wenn man sich die Altbauquartiere aus dem 19. Jahrhundert ansieht, dann sind das die zurzeit dichtesten Quartiere. Ein Café an der Ecke oder ein Kiosk können dort überleben, weil genug Kunden vorbeikommen. Da steht dann Luigi vor seinem Restaurant und ruft ein vertrautes „Ciao!“ herüber. genau das ist es. Es geht nicht in erster Linie darum, Mahlzeiten zu verkaufen. Wer geht schon in ein Restaurant, weil er Hunger hat? Nein, man will Freunde treffen. Das müssen wir verstehen. Die Gründerzeitquartiere sind über Jahrzehnte repariert worden, damit sie heute diese Lebensqualität haben. Sie haben die Toiletten zum Beispiel nicht mehr im Treppenhaus, Elektrizität, fließend Warmwasser, Internet. Die Wohnungen sind kleinteiliger geworden. Und die Straßen haben einen jahrzehntealten Baumbewuchs. Die modernen Quartiere sind dagegen nicht dicht genug und müssen noch „repariert“ werden.

Sie sagen, dass man im Quartier Heidestraße in der Europacity Luigi an der Ecke vor dem geschlossenen Restaurant treffen könnte?

Ich bin mit meinem Büro ja bewusst in den Tour Total gegangen, weil ich gerne beobachte, wie neue Quartiere entstehen. Dieser neue Teil von Berlin ist bei Weitem noch nicht fertig. Man sieht aber jetzt schon, dass die Heidestraße leider zu breit geworden ist. Der Wechsel von einer Straßenseite zur anderen ist durch die breiten Fahrspuren nicht so leicht möglich. Auch dieses Quartier ist nicht dicht genug, um der zentralen Lage gerecht zu werden.

Aus der Perspektive gesehen könnte es ja prima sein, dass die Rieckhallen abgerissen werden, Herr Flick mit seiner Kunstsammlung die Stadt verlässt und neuer Raum für Luigi entsteht.

Es war ein Kunstquartier angekündigt. Die Ankündigungen sind aber nicht umgesetzt worden. Das ist sehr bedauerlich ist. Unabhängig davon, konnte sich zu Beginn dieses Projektes kaum einer vorstellen, dass dort einmal Wohnungen gebaut und Büros gebraucht werden. So fantasielos, aber auch so wenig ambitioniert und hilflos ist Berlin gewesen. Das ist alles weniger als zwölf Jahre her.

Vielleicht brauchen wir die Büros auch gar nicht mehr. Verlassen wir die Stadt. Landflucht und Stadtflucht wechseln sich seit Jahrzehnten beständig ab – das unterliegt Moden und natürlich wirtschaftlichen sowie politischen Rahmenbedingungen. Während der Coronakrise sehnten sich viele nach einem Leben auf dem Land, das ja auch leicht möglich wäre, wenn Deutschland die Digitalisierung auf allen Ebenen nicht so verschlafen hätte. Könnte es sein, dass die Umlandplanung in Metropolräumen, die Schaffung von Infrastrukturen, derzeit wichtiger ist als die Weiterplanung und Verdichtung der Städte?

Man muss grundsätzlich die bebauten Flächen besser nutzen. Aber wir lernen gerade im Crashkurs, wie gut das ist, wenn man selbstbestimmter arbeiten kann. Das führt zu mehr Lebensqualität. Da hilft es, die Metropolregionen zu betrachten: Eigentlich ist München eine Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern, aber die Metropolregion ist mit sechs Millionen ungefähr so groß wie Berlin/Brandenburg. Paris wäre mit 2,2 Millionen Einwohnern halb so groß wie Berlin. Aber die Metropolregion dort zählt schon zwölf Millionen Einwohner. Das Zusammenwirken von Stadt und Region muss weit vorausschauend gestaltet werden. Schade, dass dabei Berlin und Brandenburg nicht gut zusammenarbeiten.

Die Menschen sehnen sich nach Sundownern, nach Normalität – mit Gedränge auf Rolltreppen, vollen U-Bahnzügen, mit all dem Tempo einer Metropolis. Werden wir uns aber, notgedrungen, von dem alten Großstadtleben verabschieden müssen und wie sieht dann das neue aus?

Ich würde mich freuen, wenn es zu einer gewissen Reduktion von Geschwindigkeit kommt. Das gute Leben ist nicht das schnelle Leben, in dem eine Sensation die nächste jagt. Das gute Leben ist das freundschaftliche Leben miteinander, in dem man vielleicht einfach auch mal nur nichts tun kann. Unsere Städte spiegeln das aber so nicht wieder. Es gibt so viele Ablenkungen, Anstrengungen und Stress. Dazu kommt die Furcht, etwas zu verpassen. Unsere aktuelle Form der Mobilität nimmt dabei eine Schlüsselfunktion ein: Die Autostadt ist giftig, schafft eine feindliche Umgebung und ist gefährlich für Kinder, Alte, ja, alle. Wir hätten so viele neue Möglichkeiten, wenn der Autoverkehr aus der Innenstadt herausgedrängt würde. Es gibt noch so viel zu tun, um Berlin freundlicher und menschlicher zu machen. Die Krise kann uns mutiger, radikaler und vorausschauender machen. Darauf hoffe ich.

Das Interview führe Reinhart Bünger.

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