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Wirtschaft: Der Sandmann

Vor der Scheuermilch war der Sand. Noch vor hundert Jahren wurden mit den feinen Körnern die Dielen geputzt. Der Abbau war allerdings eine Tortur für den Körper. Nur die Ärmsten der Armen verdienten also auf diese Art ihr Geld

Es gab Berufe, die waren so arg, so schlimm, so eine Schinderei, dass selbst die, die sie ausübten, kaum darüber sprachen, geschweige denn in der Lage waren, etwas darüber aufzuschreiben. Zu diesen Berufen gehörte der Sandmann.

„Ich habe mir von den alten Sandmachern, die noch am Leben sind, erzählen lassen, was das für ein mühsames Leben war, und man kann verstehen, wenn diese Leute nicht gern vom ‚Sandloch’ sprechen.“ Das schrieb in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Lehrer und Heimatforscher Rauschert aus Walldorf in Thüringen über seine Versuche, mehr über das Alltagsleben der Sandmänner zu erfahren.

Sandmänner, landauf, landab als Sandhasen verspottet, das waren die Männer, die als Tagelöhner Sand abgruben, ihn klein hackten oder in der Mühle fein mahlten, um ihn dann in den Städten als sogenannten Stubensand zu verkauften. Der wurde zum Putzen gebraucht: Denn bis vor gar nicht allzu langer Zeit wischte man samstags die gute Stube sauber, schüttete danach feinen Sand auf die Dielen und Böden, lief den Rest des Tages darauf herum, um am Abend dann, kurz vor dem Sonntag, den ganzen Sand samt Dreck auszukehren. Der Raum war danach blitzeblank sauber geschmirgelt. Zum Reinigen von Holzbottichen und von Gefäßen, in denen Milchprodukte gelagert wurde, benutzte man Scheuersand – eine etwas grobere Variante. Eine ganz besonders feine Sorte hingegen wurde zum Löschen von Tinte verwendet, und auch in der Küche gab es nebst Seife und Soda zum Händewaschen ein Gefäß für Sand.

Der Lehrer Rauschert aus Walldorf zählt zu den ganz wenigen, die sich überhaupt für diesen Beruf interessierten, und das auch nur, weil die Sandmänner und -frauen in seiner Heimatstadt über die Jahrhunderte eine imposante Höhle mit einer Fläche von 65 000 Quadratmeter Fläche gegraben hatten. Mehr als 2000 Säulen stützen darin die Decke: „Mit primitiven Werkzeugen wie Spitzhacke, Meißel und Holzklöppeln drangen die Sandmacher immer tiefer in das Felsgestein ein“, schreibt Rauschert. „Oft konnten sie in den schmalen Gängen beim Rauch der Öllampen nur in gebückter Haltung arbeiten und gehen. Diese Arbeitsbedingungen, der Hunger und die körperlichen Anstrengungen führten zum frühzeitigen Tod vieler Arbeiter.“

Zeitweise waren 60 bis 80 Personen, oftmals sogar Tag und Nacht, damit beschäftigt, Sandsteinbrocken abzuspalten und anschließend zu zertrümmern, berichtet Rauschert. Auch Kinder. Denn der Sandabbau war ein Job für die ganze Familie. Wenn die Männer mit dem Abbauen fertig waren, ging die Arbeit weiter. „Zu Hause klopften Frauen und Kinder das Material, siebten und verpackten den Sand.“

In anderen Gegenden Deutschlands, wo aufgrund der geologischen Verhältnisse die Sandschichten direkt unter dem Boden liegen, mussten keine Höhlen gebuddelt werden. Dort reichte es aus, einfach in den Wald zu gehen und Löcher zu graben, um an den Sand zu gelangen. In solchen Landstrichen, wie beispielsweise dem württembergischen Sternenfels, wurden die Sandmänner deshalb als wahre Plage betrachtet: „Der gesamte Gemeindewald auf dem Sandberg wurde im Laufe der Zeit völlig durchwühlt und nach geeigneten Stubensandsteinen durchsucht. Hierbei entstand ein Bild der Verwüstung“, kann man in der dortigen Gemeindechronik lesen. Vielerorts wurde das Sandgraben darum verboten. Durchgesetzt wurde das Gesetz allerdings kaum, denn für die, die auf die Produktion von Sand angewiesen waren, gab es häufig keine andere Verdienstmöglichkeit. Es ihnen zu verbieten, bedeutete, sie verhungern zu lassen. Die Sandmänner waren häufig die Ärmsten der Armen – zudem war die Ausübung des Berufes gesundheitsschädlich: Denn so wie der Sand die Dielenböden sauber scheuerte, so rieb er auch die Haut der Tagelöhner wund. Nicht nur bei der Arbeit. Jedes Zimmer der Sandmänner war gefüllt mit Sand – wo sonst sollten sie ihn lagern? Er rieselte in ihre Augen, die sich davon entzündeten und rot anliefen, und er sammelte sich langsam, aber allmählich in ihren Lungen. Ein zeitgenössischer Anatom beschrieb das Gefühl beim Sezieren eines so geschundenen Organs mit plastischen Worten. Es ist „wie durch Sand schneiden“.

Wenn es sich vermeiden ließ, wählte man also ein anderes Einkommen als den Sandabbau. Doch was tun, wenn plötzlich, wie 1845, die Kartoffelernten schlecht ausfielen? Wer nicht nach Amerika auswanderte, musste dazuverdienen. Im schwäbischen Gärtringen wurden in diesen Jahren vier Sandmühlen aufgestellt, in Sternenfels sollen es sogar 35 gewesen sein. Für die Besitzer, die die Mühlen verpachteten, entpuppte sich das als lukratives Geschäft: Schließlich war man ja nicht weit von Stuttgart entfernt, der reinlichen Schwabenhauptstadt, der Bastion der Kehrwoche, dem wöchentlichen Putzritual. 1860 wurden hier drei Millionen Liter Fegesand verbraucht.

Die Sandmänner verkauften ihren Sand an der Haustüre. In einem Märchen aus der Heilbronner Gegend wird vom Stubensand-Jakob erzählt: „Der Stubensand-Jakob war ein armer Mann. Sein Karren war schon alt und wackelig, und sein Gaul, die Liese, lahmte. So kam er mit seinem Gespann nur langsam vorwärts, und wenn er durch ein Dorf oder ein Städtchen fuhr und seinen Stubensand ausrief, so lachten die Leute und meinten: Da musst du früher aufstehen, Jakob, wir haben unseren Stubensand längst bei anderen gekauft. Aber so früh sich der Jakob auch auf den Weg machte, immer schon waren die andern Fuhrleute mit ihrem Stubensand vor ihm da gewesen. Nur wenige Leute kauften ihm – mehr aus Mitleid – ein paar Eimer oder Säckchen von seinem Sand ab. So reichte, was der Jakob verdiente, kaum aus für sein Essen und den Hafer fürs Pferd.“ Man sieht, es war ein harter Job.

Vieser
Durch die Welt der verschwundenen Berufe führt Sie die Journalistin und Autorin Michaela Vieser (r.). Von ihr erschien zuletzt das Buch "Tee mit Buddha - mein Jahr in einem japanischen Kloster". Die Illustrationen zur Serie stammen von der Grafikerin Irmela Schautz. -

© privat

Bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts konnte man den Ruf der Sandmänner auf Deutschlands Straßen hören: „Sahnd, Sahnd, Sahnd, Scheuer weißer stummer Sahnd. Hann de Kinner in de Stubbn gschissn wert ne handvoll druff geschmissn. Sahnd, Sahnd, Sahnd!“, oder „Der Sandmann ist da! Er hat so schönen weißen Sand, ist allen Kindern wohlbekannt“. Mit dem Aufkommen von chemischen Putzmitteln, Linoleum- und Hartholzböden aber stagnierte der Bedarf an Stubensand, und der Beruf des Sandmanns verschwand allmählich.

Dass man heute den Sandmann dennoch kennt, als nettes Kerlchen, das allabendlich die Kinder vor den Fernseher lockt, hat andere Gründe. Das Ganze beginnt etwas makaber: E. T. A. Hoffmann inspirierten die schwindsüchtigen, rotäugigen Sandmänner zu einem unheimliches Monster, das den Kindern die Augen aussticht. Rieben sich die Kinder abends die Augen, so sei der böse Sandmann daran schuld. Der für die Leiden des Volkes so offene Hans Christian Andersen kehrte die Geschichte ins Gute. In seinem Märchen bot der Sandmann den Kindern abends süße Milch an, um die Augen zu benetzen. Und von da war es kein weiter Weg mehr zum Sandmann, der guten Traumsand streut. Dass er zuerst im Ostfernsehen auftaucht, wundert wenig: Schließlich war der Sandmann der Proletarier par excellence.

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