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"Was ist heute und morgen die Identität von Siemens", fragt Birgit Steinborn, Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Siemens.

© Thilo Rückeis

Siemens-Betriebsrätin Birgit Steinborn: „Der Druck hat viele zermürbt“

Birgit Steinborn, Gesamtbetriebsratschefin, kritisiert im Interview den Umbau und Stellenabbau im Konzern. Für die Zukunft fehlt ihr die klare Vision.

Birgit Steinborn (1960 in Berlin-Siemensstadt geboren) hat eine besondere Beziehung zum Konzern. Vater und Großvater arbeiteten bei Siemens. Nach der Ausbildung zur Industriekauffrau Ende der 1970er Jahre studierte Steinborn Soziologie und arbeitete in verschiedenen Funktionen für Siemens in Karlsruhe und Hamburg. In den 1990er Jahren wurde sie hauptamtliche Betriebsrätin, seit 2013 ist sie Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats der Siemens AG und seit 2015 stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrats. Mit rund 385000 Beschäftigten kam Siemens im vergangenen Geschäftsjahr auf 87 Milliarden Euro Umsatz und einen Gewinn nach Steuern von 5,6 Milliarden Euro.

Frau Steinborn, haben Sie Ihren Frieden gemacht mit Vorstandschef Joe Kaeser?
Es waren harte Auseinandersetzungen, aber wir sind uns auch in Konflikten auf Augenhöhe begegnet. Betriebsräte haben kein Verständnis für die ständigen Abbau- und Umbaumaßnahmen des Vorstandsvorsitzenden. Vor ziemlich genau sechs Jahren ist der damals neue Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser in Berlin auf unserer Betriebsrätekonferenz aufgetreten und hat darüber geredet, dass er Ruhe ins Unternehmen bringen möchte.

Und den Worten folgten keine Taten?
Im Gegenteil. Was an Unruhe kam, war unglaublich. Damals bestand die Siemens-AG noch aus viel mehr Geschäftsfeldern als heute, und inzwischen stehen wir sogar vor einer Spaltung des Unternehmens. Das hat vor sechs Jahren niemand so kommen sehen.

Die Zahlen geben Kaeser recht: Vor zwei Wochen hat er bei der Bilanzvorlage betont, dass Siemens in den vergangenen sechs Jahren alle Ziele erreicht habe.
Aber eine wichtige Frage bleibt unbeantwortet: Was ist heute und morgen die Identität von Siemens? Sind wir noch ein Industrieunternehmen oder schon ein Software- oder Plattformunternehmen? Wie verbinden wir Hard- und Software? Welche Unternehmensbereiche arbeiten wie zusammen? Ohne den Energiebereich werden wir im nächsten Jahr ein komplett anderes Unternehmen werden.

Diese Sparte soll im Spätsommer 2020 unter dem Namen Siemens Energy an die Börse gebracht werden, aber Siemens wird als Ankeraktionär beteiligt bleiben.
Der Anteil von Siemens liegt aber in jedem Fall unter 50 Prozent, sodass die Siemens Energy nicht mehr konsolidiert wird. Faktisch gehört das Energiegeschäft mit rund 90000 Mitarbeitern, davon 26000 in Deutschland, dann nicht mehr zum Konzern. Das ist eine Zäsur für das Unternehmen, die viele Beschäftigte verunsichert.

Wieso?
Es gibt Unsicherheit und auch Misstrauen über den weiteren Weg. Die Bereiche Digital Industries, Smart Infrastructure und Mobility sollen die industriellen Kerne von Siemens bleiben. Das sagt der Vorstand. Aber wie lange gilt diese Zusage? Viele Siemens-Beschäftigte glauben nicht mehr, dass diese Aussage lange hält. Wir brauchen aber gerade in diesen Zeiten mehr Sicherheit und Vertrauen in den Belegschaften.

In Erfurt baut Siemens Generatoren für Kraftwerke.

© dpa

Mitarbeiter müssen immerhin keine Angst vor betriebsbedingten Kündigungen haben.
Ja, das ist richtig und wichtig. Aber wofür steht Siemens? Diese Frage muss der Vorstand beantworten. Im Augenblick sehe ich das große Risiko, dass notwendige Innovationen und Investitionen zurückgefahren werden, zum Beispiel auch in Weiterbildung, um kurzfristig die hohen Renditeziele zu erreichen.

Sie haben doch gerade einen Betriebsrätepreis bekommen, da Sie im Rahmen eines Restrukturierungsprogramms einen Weiterbildungsfonds mit 100 Millionen Euro durchgesetzt haben.
Ein Glück, dass wir den im Zusammenhang mit Standortverhandlungen erreichen konnten. Heute loben alle den Fonds. Damals war auf der Managementseite von einem Geschenk für die Arbeitnehmer die Rede. Was für ein Irrsinn: Die 100 Millionen Euro sind eine Investition in die Zukunft von Siemens. Auch die Arbeitnehmervertreter können und wollen den Weg nach vorne mitgestalten, bislang sind die Betriebsräte da eher rausgehalten worden.

Und das wird jetzt anders?
Die Veränderungen in der Arbeitswelt sind so groß, dass es ohne Beteiligung der Betroffenen gar nicht funktionieren kann. Das Management muss mit uns Betriebsräten viel offener werden und auch viel agiler Dinge ausprobieren. Mit den Mitteln des Zukunftsfonds ist das möglich, indem wir Zukunftsthemen gemeinsam entwickeln. Und uns nicht mehr so oft mit Personalabbau beschäftigen.

Gigantische 600 Millionen Euro hat Siemens im vergangenen Jahr für Personalabbau ausgegeben.
Im vorletzten Geschäftsjahr war es noch mehr. Ich finde es erschreckend, wenn Abbauprogramme vorgelegt werden und ganz viele Kolleginnen und Kollegen fast schon darauf warten, weil sie dann Altersteilzeit in Anspruch nehmen können. Der ständige Druck und die Veränderung hat viele zermürbt. Wir wollen aber auch die Älteren mitnehmen in der Transformation der Arbeitswelt und dazu mehr nach vorne denken. Dafür haben wir den Zukunftsfonds. Bislang gab es Weiterbildung meistens erst dann, wenn es dringend erforderlich war, aber viel zu wenig vorausschauend.

Vergangene Woche gab es in Berlin das bundesweite Siemens-Betriebsrätetreffen. Was stand dabei im Mittelpunkt?
Das Motto der Konferenz war „Mit Tradition in die Zukunft“. Hier in Berlin ist Siemens gegründet worden, und hier ist heute ein Ort für Veränderungen, wie wir auch in den Berliner Siemens-Werken sehen. Die Betriebsräte wollen wissen, wohin die Reise geht und ob es auch in Deutschland endlich das versprochene Wachstum gibt. In vielen Geschäftsbereichen gibt es Wachstum, aber das findet zum Beispiel in Asien statt.

Immerhin ist die Zahl der deutschen Siemens-Beschäftigten seit Jahren konstant bei etwa 117000.
Das wird sich jetzt aber ändern, weil die Energie mit 26000 Mitarbeitern den Konzern verlässt. Und wie die übrigen Bereiche sich entwickeln, ist eine große Frage für uns.

Mit Roland Busch kommt in gut einem Jahr wieder ein Ingenieur auf den Stuhl des Vorstandsvorsitzenden, mit dem auch die Betriebsräte gut können.
Herr Busch war, bevor er 2011 in den Vorstand kam, Chef der Strategie. Er hat viel Erfahrung. Wir erwarten von ihm eine stärkere Betonung der traditionellen Siemens-Werte: Dazu gehören Pioniergeist und die Bereitschaft, Entscheidungen mit längerem Atem zu treffen und nicht nur bis zum nächsten Quartalsbericht. Dazu gehören Innovationsfähigkeit und soziale Verantwortung. Veränderungen funktionieren nicht ohne die Motivation der Mitarbeiter. Das hat Roland Busch verstanden. Und er weiß, wo es technologisch hin geht, das ist sicherlich auch hilfreich für die Personalentwicklung, die für uns ohne Mitbestimmung nicht denkbar ist. An diesem Punkt müssen wir wachsam bleiben.

Roland Busch ist der designierte Nachfolger von Joe Kaeser als Vorstandschef.

© Siemens AG

Die Mitbestimmung stellt doch niemand infrage.
Bei jeder Ausgliederung müssen wir uns mit dem Thema befassen. Gibt es einen Börsengang in Deutschland? Gibt es eine GmbH & Co. KG oder eine SE? Wir brauchen die deutsche Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft, weil die ein Standortvorteil ist und zu Innovationen beiträgt. Das ist für uns essenziell. Auf der Grundlage der Mitbestimmung wird auch das Management von uns gefordert, denn es sind vor allem Arbeitnehmer und Betriebsräte, die ein Interesse haben an Innovationen und langfristig wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen.

Dazu muss auch der Profit stimmen – wie in den Kaeser-Jahren.
Unser Motto „Mensch vor Marge“ ist und bleibt zentral. Dafür setzen wir uns ein. Durch Sparmaßnahmen ist im Übrigen noch kein Unternehmen zukunftsfähig geworden. Und inzwischen gibt es eine Stimmung im Land, wonach die reine Profitorientierung auf Unverständnis oder sogar Widerstand stößt. Das hat ja auch in den vergangenen Jahren die öffentliche Auseinandersetzung um Stellenabbau und Werksschließungen bei Siemens gezeigt, wodurch dann auch Herr Kaeser zum Umdenken bewegt werden konnte.

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