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Das Prozedere erfordert von den Unternehmen mehr Engagement.

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Ausbildung: Praktikum statt Matheprüfung

Um schwächeren Jugendlichen eine Chance zu geben, verzichten Berliner Betriebe auf Einstellungstests. Grund ist auch das Nachwuchsproblem.

In der Schule haben sie schlechte Noten bekommen, ihr Abschluss ist nicht gut. Den Einstellungstest für einen Ausbildungsplatz werden sie wahrscheinlich nicht bestehen. Deswegen soll es ihn in manchen Berliner Betrieben probeweise nicht mehr geben. 16 Unternehmen mit Landesbeteiligung haben sich dazu entschieden, ihre Auswahlverfahren zu lockern – weil ein schwacher Schüler ein besserer Lehrling sein könnte als ein Einser-Abiturient.

Das Pilotprojekt soll drei Jahre dauern und demonstrieren, dass Jugendliche aus Einwandererfamilien, die womöglich an dem üblichen Bewerbungsprozess scheitern würden, eine Ausbildung erfolgreich beenden können. Das Vorhaben ist Teil der Senatsinitiative „Berlin braucht dich“, die den Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund in jenen Ausbildungsbereichen, in denen das Land Berlin Mitarbeitgeber ist, auf 25 Prozent erhöhen will. Deswegen geht die Idee auf die Initiative des Integrationsbeauftragten Andreas Germershausen zurück. „Wie wollen sehen, welchen Unterschied es macht, ob es einen Einstellungstest gibt oder nicht“, sagte er am Montag. „Die Qualität der Lehre soll aber nicht beeinträchtigt werden.“

Praktikum ist Pflicht

Um sich für einen der 55 Ausbildungsplätze bewerben zu können, ist ein dreiwöchiges Betriebspraktikum Pflicht. Überzeugen die Jugendlichen dabei, haben sie trotz eines schlechten Zeugnisses Chancen. „Es geht mittlerweile mehr um die Grundhaltung und Motivation als um Noten“, sagte Ulrich Söding von Vivantes. Bei dem Pilotprojekt verzichtet der Klinikkonzern darauf, Rechtschreibung, Allgemeinwissen, Grundrechenarten und Konzentration zu prüfen. Was zählt, sind Praktikum und Vorstellungsgespräch. Außerdem erwägt das Unternehmen auch psychologische Tests und Assessment-Center einzuführen, etwa um zu sehen, ob der Jugendliche mit Patienten umgehen und in einem Team arbeiten kann. Diese Fähigkeiten zählten mehr als Schulwissen, heißt es bei Vivantes.

Für die Unternehmen bedeutet das Prozedere mehr Aufwand: Sie müssen beim Praktikum und während der Ausbildung genauer hinsehen, die Mädchen und Jungen stärker betreuen. Die Berliner Wasserbetriebe haben ihre Ausbilder deswegen zusätzlich geschult. Bei der Krankenhaustochter Charité Facility Management ist eine Sozialpädagogin bei den Auswahlgesprächen dabei, um bei den Antworten der Bewerber „zwischen den Zeilen zu lesen“. Vivantes baut ein Mentorenprogramm auf und hat einen Mitarbeiter eingestellt, der sich im gesamten Unternehmen ausschließlich um Coaching und Lernbegleitung kümmert.

Wie sich die Azubis entwickeln und ob sie ohne einen Einstellungstest schlechtere Arbeit leisten, wird jedes Jahr ausgewertet. „Am Ende müssen sie – wie alle Azubis – die Prüfungen bestehen“, sagte Söding.

Das Azubi-Problem lösen

Das Pilotprojekt ist ein Versuch, das Azubi-Problem in Berlin zu lösen. Ein Drittel der Firmen findet keine Auszubildenden mehr. Wegen des demografischen Wandels umfasst ein Schülerjahrgang heute rund 120000 Mädchen und Jungen weniger als vor zehn Jahren. Es gibt weniger potenziellen Nachwuchs. Die Konkurrenz ist kleiner. Dazu kommt, dass immer mehr Schulabgänger lieber studieren wollen, weil sie sich davon größere Karrierechancen versprechen.

„Wir können nicht an Verfahren festhalten, mit denen uns eine halbe Generation wegbricht“, sagte Marianne Rabe von der Charité. „Und was für einen Pflegeberuf wichtig ist, lernt man nicht in Biologie.“ Weil die Unternehmen Lehrlinge brauchen, müssen sie attraktiver werden. Die Firmen sind vom Arbeitgeber zum Bewerber geworden. „Vor zehn Jahren konnten wir eine Bestenauslese betreiben“, sagte Söding. „Das geht nicht mehr.“

Nahles appellierte an Betriebe

Die Gewerkschaften sehen das Pilotvorhaben positiv. „Wer von ausbildungsunfähigen Jugendlichen spricht, macht es sich zu einfach“, sagte Susanne Stumpenhusen von Verdi. Vorsicht sei zwar in Ordnung, aber der Versuch allein sei wichtig. Die Alternative seien zu viele junge Menschen, die sich von der Gesellschaft nicht gebraucht fühlen. Selbst Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte Unternehmen zum diesjährigen Ausbildungsstart im September dazu aufgerufen, schwächere Azubis auszuwählen. Betriebe sollten auch jenen eine Chance geben, die sie auf den ersten Blick nicht einstellen würden.

Die Unternehmen haben Nachwuchsprobleme. Nichtsdestotrotz waren sich die Landesbetriebe einig, dass vielleicht nicht Noten ausschlaggebend sind. Wohl aber die Motivation. Wer nicht wolle, den wollten sie auch nicht.

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