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Seit 2017 ist Detlef Scheele Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA). Der 65-Jährige war vorher Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium und Senator für Arbeit in Hamburg.

© Stefan Boness/Ipon/Imago

Arbeitsplätze für geflüchtete Ukrainer: „Jeder zweite hat eine akademische Ausbildung“

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, lobt das ukrainische Qualifikationsniveau. Zudem spricht er im Interview über den hohen Fachkräftemangel.

Herr Scheele, Sie haben den aus der Ukraine geflüchteten Menschen Hilfe bei der Integration in den Arbeitsmarkt zugesagt. Kann Deutschland das leisten?
Zunächst geht es um humanitäre Hilfe. Wenn die Menschen so weit sind und hier arbeiten möchten, treffen sie auf einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt: Die Bundesagentur hat im März mehr als 800 000 offene Stellen registriert, pro Monat kommen 160.000 bis 180.000 hinzu. Demografie bedingt brauchen wir Zuwanderung, um den Fachkräftebedarf zu decken. Und die Geflüchteten nehmen anderen sicher keine Arbeitsplätze weg. Das war auch bei der Flüchtlingskrise 2014/2015 nicht der Fall.
Sind die Menschen, die gerade aus einem Krieg kommen, überhaupt in der Lage, jetzt zu arbeiten?
Wenn ich mir die Bilder in den Medien ansehe und mich in ihre Lage versetze, weiß ich nicht, ob sie als erstes den Stundenplan eines Integrationskurses in die Hand gedrückt bekommen wollen.

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Bisher haben sich bundesweit nur mehrere hundert Geflüchtete bei der Arbeitsagentur gemeldet, um sich in einen Job vermitteln zu lassen. Bei den Online-Stellenbörsen scheint das Interesse dagegen groß zu sein. Wie kommt das?
Die Bundesagentur hat zurzeit keine institutionelle Anbindung bei der Aufnahme. Die Menschen werden nach dem Asylbewerberleistungsgesetz untergebracht und das setzen die Kommunen um. Mit uns kommen sie nur in Kontakt, wenn sie von sich aus zu uns kommen oder wir sie in den Erstaufnahmeeinrichtungen aufsuchen und dort zu ihren Möglichkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt beraten werden.

Gilt bei der Vermittlung „Work first“ oder sollen die Geflüchteten in ihren bisherigen Jobs vermittelt werden?
In der vorigen Flüchtlingskrise war die Priorität, Menschen erstmal in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Diesmal möchten wir die Menschen möglichst ausbildungsadäquat beraten und in Arbeit bringen, die ihrer Ausbildung entspricht. Andererseits: Kommt jemand zu uns, der schnell auf eigenen Beinen stehen und arbeiten will, werden wir sie oder ihn nicht davon abhalten, zunächst einen vielleicht niedriger qualifizierten Job anzunehmen.

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Gerade angekommen. 280.000 Geflüchtete sind bisher in Deutschland registriert. Die Arbeitsagentur will helfen, sie in Jobs zu vermitteln.
Gerade angekommen. 280.000 Geflüchtete sind bisher in Deutschland registriert. Die Arbeitsagentur will helfen, sie in Jobs zu vermitteln.

© Hannibal Hanschke

Die Bundespolizei hat bisher rund 280 000 geflüchtete Ukrainer registriert. Es kommen vor allem Frauen, die Hälfte sind Kinder. Werden diese Menschen einen relevanten Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben?
Da kommen noch ein paar ältere Menschen dazu, die ja auch aus der Ukraine ausreisen dürfen. Insofern können von den 280 000 nicht alle arbeiten. Bei der hohen Fachkräftenachfrage und dem großen Mangel an Arbeitskräften in Deutschland sind wir über jeden dankbar.

Welche Qualifikationen bringen die Menschen mit?
Das Qualifikationsniveau der ukrainischen Bevölkerung ist im internationalen Vergleich hoch. Wir gehen davon aus, dass etwa jeder zweite Geflüchtete eine akademische Ausbildung hat, entweder wissenschaftlich ausgebildet ist oder einen Fachschulabschluss auf Bachelorniveau besitzt, der in etwa der dualen Ausbildung in Deutschland entspricht. Laut unserem Forschungsinstitut, dem IAB, waren Frauen in der Ukraine überwiegend in akademischen, technischen und medizinischen Berufen tätig. Gerade in höherqualifizierten Berufen braucht man aber Sprachkenntnisse. Insofern entscheidet das Angebot an Sprachkursen über den Erfolg der Arbeitsmarktintegration. Auch wichtig ist das Angebot an Kinderbetreuung. Beides muss ausgebaut werden.

Lässt sich die Anerkennung von Berufsabschlüssen schneller regeln als bisher?
Das ist ein komplexes Thema, nicht nur bei Sozial- und Gesundheitsberufen sondern auch in dualen Ausbildungsberufen. Das zu regeln ist Sache der Länder oder Kammern und dürfte eine Herausforderung werden. Es wäre gut, wenn wir das in Deutschland schneller als bisher hinbekämen.

Viele Geflüchtete dürften sich wünschen, schnell wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Machen da Deutschkurse und Weiterbildung sozial und ökonomisch Sinn?
In drei Monaten wird man vermutlich mehr dazu wissen, ob Menschen zurückkehren können oder nicht. Wenn die Nationalstaatlichkeit der Ukraine erhalten bleibt, wird der Wunsch nach Rückkehr groß sein. Es gibt da keinen Königsweg. Die Kunst ist jetzt, gute Entscheidungen zu treffen, obwohl wir nicht wissen, wie es weitergeht, und uns zu einer Willkommenskultur zu entschließen, die jedem die nötige Qualifizierung anbietet und einen möglichst adäquaten Berufseinstieg, unabhängig davon, wie lange jemand bleiben will. Und hat jemand hier eine Ausbildung genossen und geht dann zurück, wird es dem geschundenen Land nicht schaden, wenn ein gut ausgebildeter Mensch hilft, es wiederaufzubauen.

Wie kann verhindert werden, dass Geflüchtete im Niedriglohnsektor und bei Firmen landen, die sich nicht an den Mindestlohn und die Arbeitsschutzgesetze halten?
Geflüchtete sind besonders gefährdet, in unseriöse Arbeitsverhältnisse zu kommen. Da sind staatliche Kontrollen wichtig. Wir als Arbeitsagentur werden Arbeitsuchende natürlich gar nicht erst in solche Bereiche, sondern nur in auskömmliche Arbeit vermitteln.

Durch die Anwendung der „Massenzustromrichtlinie“ der EU haben Geflüchtete jetzt unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine Lehre aus der Krise 2015?
Auch in den vergangenen Jahren hat die Integration ganz gut geklappt. Rund jeder zweite der Geflüchteten, die seit 2013 nach Deutschland gekommen sind, geht fünf Jahre nach dem Zuzug einer Erwerbstätigkeit nach. Mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Geflüchteten arbeitet als Fachkraft oder Akademiker. Anhand der Zahlen sieht man auch, dass die Integration damals schneller vor sich gegangen ist, als wiederum bei früheren Fluchtbewegungen, zum Beispiel beim Jugoslawienkrieg. Und ja, mit dem sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt wird es leichter sein, die Menschen, die es wollen, in Deutschland zu integrieren.

Nützt dabei auch das 2020 eingeführte Fachkräfteeinwanderungsgesetz?
In der aktuellen Lage hilft das nicht, wir werben die Geflüchteten ja nicht an, die Not führt sie zu uns. Fluchtbewegungen und gezielte Zuwanderung von Fachkräften müssen unterschieden werden. Wie wirksam das Gesetz ist, wird sich zeigen. Es trat am 1. März 2020 in Kraft, am 16. März haben wir pandemiebedingt die Türen geschlossen. Um Fachkräfteeinwanderung zu organisieren, muss man aber reisen. Dennoch haben wir inzwischen mit Ländern wie Indonesien, Mexiko oder dem indischen Bundesstaat Kerala Absprachen speziell zur Vermittlung von Fachkräften geschlossen. Dadurch sowie durch weitere Partnerschaftsabkommen konnten wir knapp 3000 Fachkräfte aus Drittstaaten gewinnen.

Und die Fachkräfte fehlen dann nicht dort?
Wir werben nur in Ländern, die nicht selbst akuten Fachkräftemangel in den jeweiligen Bereichen haben. Unser Ziel ist faire Mobilität. Für ein stabiles Zuwanderungssystem bedarf es außerdem einer Willkommenskultur, die die gesamte Familie in den Blick nimmt. Sonst reisen die Menschen wieder aus.

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Ein Thema, das Sie in Ihrem Amt voranbringen wollten, war die Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahl liegt heute mit 955 000 sogar noch etwas höher als bei Ihrem Start.
Die Pandemie hat uns da wieder weit zurückgeworfen. Unser Konzept ist, mehr mit den kommunalen Einrichtungen vor Ort zusammenzuarbeiten, so dass ein ganzheitliches Angebot für Langzeitarbeitslose entsteht, vom Jobcenter bis zur Schuldnerberatung. Und das ist grundsätzlich auch aufgegangen. 2019 hatten wir zum Teil weniger als 700 000 Langzeitarbeitslose. Dann kam Corona – und als erstes und am nachhaltigsten haben Helfer und Angelernte ihre Arbeitsplätze verloren. Das ist frustrierend. Jetzt müssen wir versuchen, das Erreichte wieder zurückzugewinnen.

Auch in Zukunft wird es nicht ganz ohne Sanktionen gehen.
Auch in Zukunft wird es nicht ganz ohne Sanktionen gehen.

© dpa

Noch in diesem Jahr sollen die Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger komplett ausgesetzt werden, hat Arbeitsminister Hubertus Heil angekündigt. Wie sehen Sie das?
Endlos zu sanktionieren hat nur zur Folge, dass wir eher den Kontakt zu den Arbeitslosen verlieren. Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Urteil von 2019 aber grundsätzlich zugestanden, den Regelsatz zu kürzen, wenn jemand wiederholt nicht mitwirkt. Das wird grundsätzlich auch weiter gelten. Im Übrigen betrifft das Thema Sanktionen 95 Prozent der Menschen nicht, denn sie möchten ja arbeiten.

Sie sind gegen das bedingungslose Grundeinkommen. Ist das geplante Bürgergeld davon weit entfernt?
Ja, das bedingungslose Grundeinkommen würde ja allen gezahlt werden, auch mir und Ihnen. Für die Grundsicherungsempfänger hieße das, höher alimentiert zu werden, ohne gefördert zu werden. Der Staat würde sich mit 1000 Euro aus der Verantwortung stehlen, ihnen aus schwierigen Lebenslagen herauszuhelfen. Das Bürgergeld dagegen unterstützt dabei, durch Beratung und Qualifizierung Arbeit zu finden. Damit nimmt der Staat seine Verantwortung wahr.

Ende des letzten Jahres haben Sie sich dafür ausgesprochen, die Sonderregeln zum Kurzarbeitergeld nicht zu verlängern. Jetzt gelten sie doch noch mal bis Juni. Ist das zu rechtfertigen, wenn Konzerne wie Daimler, BMW oder Adidas, die auf die staatlichen Hilfen zurückgegriffen haben, ihren Aktionären satte Dividenden auszahlen?
Ich verstehe den Unmut darüber, aber das ist legal wenngleich nicht legitim. Wir wenden das Gesetz an, wie es ist. Angesichts des Krieges in der Ukraine, der Sanktionen gegen Russland und der gestörten Lieferketten ist damit zu rechnen, dass uns das Thema Kurzarbeit noch länger begleiten wird.

Sie sind noch drei Monate im Amt. Was geben Sie Ihrer Nachfolgerin Andrea Nahles mit auf den Weg?
Öffentliche Ratschläge keine. Am Telefon oder beim Essen, da erzählt man sich schon mal was, wenn man gefragt wird.

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