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Risiko Operation. In der Chirurgie lassen sich am häufigsten Behandlungsfehler nachweisen.

© Jan-Peter Kasper/dpa

140 Todesfälle und 1179 Patienten mit Dauerschäden: Gutachter melden Anstieg bei Behandlungsfehlern

140 Tote und 1179 Patienten mit Dauerschäden nach Behandlungsfehlern: Das ist die Bilanz der Medizinischen Dienste für 2019. Und nur die Spitze eines Eisbergs.

Gutachter der Krankenkassen haben für das vergangene Jahr mehr Behandlungsfehler in Krankenhäusern und Arztpraxen nachgewiesen als im Jahr zuvor. Bei 14.553 Gutachten aufgrund von  Patientenbeschwerden bestätigten Experten 4.274 Fehler. 2018 wurden lediglich 4.006 Fehler nachgewiesen, der Anstieg betrug also knapp 6,7 Prozent. Bei 3.688 Behandlungsfehlern war ein Schaden die Folge (2018: 3597), mit nachgewiesener Kausalität bei 2.953 (2018: 2799). Und in 2,9 Prozent der kausalen Fehler führte dies bei Patienten zum Tod.

Die Zahlen stammen aus der Jahresstatistik des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), der heute in Berlin vorgestellt wurde. Insgesamt belegt die Auswertung für 2019 den Tod von 140 Patienten nach Behandlungsfehlern, bei 85 wurde auch die Kausalität nachgewiesen. Dauerschäden erlitten 1.179 Patienten, schwere Dauerschäden waren für 333 Patienten die Folge.

Die Zahl der tatsächlichen Behandlungsfehler in Deutschland liegt wohl weit höher. Schließlich haben nicht nur die Kassen, sondern auch die Ärztekammern eigene Beschwerdestellen – und manche Patienten wenden sich gleich direkt an Anwälte und Gerichte. Dazu kommt, dass viele die Sache trotz Fehlerverdachts auf sich beruhen lassen, weil ihnen für Meldung und Durchsetzung ihrer Ansprüche die Energie fehlt. Es sei nach wie vor „unbekannt, wie viele Patientinnen und Patienten einem Behandlungsfehlervorwurf nachgehen“, heißt es in der MDS-Jahresbilanz ausdrücklich. „Unbekannt ist auch, wie viele Behandlungsfehler hierzulande überhaupt geschehen und wie viele Menschen dadurch geschädigt werden.“ Gesamtzahlen würden nicht erfasst, obwohl die Medizinischen Dienste dies seit Jahren forderten. Und wissenschaftliche Studien hätten „immer wieder gezeigt, dass von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist“. Deshalb könnten aus der Statistik auch „keine Rückschlüsse auf die allgemeine Fehlerhäufigkeit oder die Entwicklung der Patientensicherheit gezogen werden“.

Höchste Fehlerquote bei Orthopäden und Unfallchirurgen 

Allerdings lassen sich Tendenzen ausmachen. So entfielen die mit Abstand meisten gemeldeten Fälle und auch nachgewiesenen Fehler auf Orthopädie und Unfallchirurgie. Hier wurden 4.665 Verdachtsfälle untersucht – und in 1.341 dieser Fälle wurden tatsächlich Behandlungsfehler festgestellt. Das ist eine Quote von 28,7 Prozent – und ein Plus gegenüber 2018 von 7,3 Prozent (bei den Fällen) beziehungsweise von 15,2 Prozent (bei den festgestellten Fehlern).

Am häufigsten bestätigt wurden Fehler – gemessen an der Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle – allerdings in der Pflege. Die Quote lag hier mit 59,2 Prozent doppelt so hoch wie bei den Orthopäden. Konkret ging es dabei um 404 festgestellte Fehler bei 683 begutachteten Fällen. Es folgen die Zahnmedizin mit 392 bestätigten Behandlungsfehlern (37,2 Prozent) und die Frauenheilkunde/Geburtshilfe mit 343 (28,3 Prozent). Deutlich gesunken sind Begutachtungen und bestätigte Fehler dagegen bei der Inneren Medizin, das Minus betrug hier 17,6 beziehungsweise 13,5 Prozent.

Einen Schwerpunkt der Begutachtung bilden die operativen/chirurgischen Fachgebiete. Dies sei „vermutlich darauf zurückzuführen, dass in diesen Fachgebieten fehlerbedingte Gesundheitsschäden für die Betroffenen einfacher zu erkennen sind als in anderen“, heißt es im Text.  Eine höhere Gefährdung oder Fehlerhäufigkeit lasse sich daraus „nicht unmittelbar ableiten“. Bei den Behandlungsanlässen kamen die meisten festgestellten Fehler auf die Versorgung von Zahnkaries (134) und Kniegelenksverschleiß (123), gefolgt von Krankheiten des Zahnmarks und der Zahnwurzel (120) und Hüftgelenksverschleiß (112). Insgesamt wurden Vorwürfe zu 1.059 verschiedenen Diagnosen erhoben.

Die Hälfte der Behandlungsfehler sind Unterlassungen

Bezogen auf den Verantwortungsbereich betrafen die meisten Fehler die operative Therapie (1.361), gefolgt von der Befunderhebung (1.025). Und bei den ergriffenen Maßnahmen kamen die Wurzelspitzenresektion und Wurzelkanalbehandlung von Zähnen auf die meisten nachgewiesenen Falschbehandlungen (142). Auf den weiteren Plätzen liegen die Implantation von Hüftgelenks- (133) und Kniegelenksprothesen (106) sowie Fehler beim Einbau von Zahnersatz und bei der „hochaufwendigen Pflege von Erwachsenen“ (jeweils 99). 

Interessant sind auch die Fehlerarten. Nur in nicht einmal der Hälfte der Fälle nämlich wurden Maßnahmen schlicht fehlerhaft durchgeführt (42,2 Prozent). Fast genauso oft (37,9 Prozent) lag der Fehler darin, dass bestimmte Maßnahmen trotz Möglichkeit und Zumutbarkeit nicht ergriffen wurden. Bei elf Prozent wurde zu spät behandelt, in den anderen Fällen war die Maßnahme kontraindiziert oder zumindest wenig erfolgversprechend.

Bei den Schadensereignissen, die als besonders folgenschwer und gleichzeitig als vermeidbar gelten – der Fachbegriff dafür lautet „Never Events“ – liegt der hochgradige, bei stationärem Aufenthalt erworbene Dekubitus einsam an der Spitze. Die Statistik registrierte hier 53 Fälle. Es folgen „im Körper zurückgelassene Fremdkörper“ (22) und Operationen an falschen Körperteilen (16). „Never Events“ wiesen weniger auf Fehler eines Einzelnen hin als auf systemische Sicherheitsmangel bei der Versorgung vor Ort, die über verbesserte Prozesse vermieden werden könnten, heißt es in der Studie.

Frauen vermuten Behandlungsfehler öfter als Männer

Die meisten Behandlungsfehler-Vorwürfe kamen übrigens aus der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen. Hier recherchierte die Medizinischen Dienste in mehr als 3.000 Fällen. Es folgt die Gruppe der 60- bis 69-Jährigen (knapp 2.500) und die der 70- bis 79 Jährigen (etwa über 2.000). Diese Altersverteilung ist nicht verwunderlich. Schließlich wird in höheren Altersgruppen häufiger behandelt und operiert. Auffällig ist aber, dass mehr Begutachtungen bei Frauen erfolgten. Auch die Quote der bestätigten Fehler mit Schaden ist bei Frauen (26,2 Prozent) etwas höher als bei Männern (24,2 Prozent). Daraus könne aber „nicht geschlussfolgert werden, dass bei Frauen insgesamt mehr Behandlungsfehler vorkommen“.

Der Bedarf an Begutachtungen habe allerdings über die Jahre hinweg generell zugenommen, schreiben die Autoren. Im Vergleich zu den Begutachtungszahlen vor zehn Jahren verzeichne man einen Zuwachs von rund 40 Prozent. Und einschneidend sei hier besonders das Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes im Februar 2013 samt der damit verbundenen Debatten gewesen. In diesem einen Jahr schnellten die Begutachtungen der Medizinischen Dienste sprunghaft um 17 Prozent nach oben. Seit 2013 sind die Krankenkassen verpflichtet, ihre Versicherten bei der Aufklärung eines Behandlungsfehler-Vorwurfs und dem Durchsetzen eventuell daraus entstehender Schadenersatzansprüche zu unterstützen. Zuvor bestand nur die Möglichkeit, nicht jedoch eine Verpflichtung dazu.

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