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Der Soldat. Rechtsmediziner rekonstruierten das Gesicht eines gefallenen Schotten.

© Andreas Austilat

Schlacht bei Wittstock: Blut am Bohnekamp

Einst wurde vor Wittstock eine grausame Schlacht gefochten. Beinahe 400 Jahre später erfährt man mehr über die Opfer von damals, in Deutschlands einzigem Museum des Dreißigjährigen Kriegs.

Von Andreas Austilat

Hinter Antje Zeiger huschen in der Ferne Autos wie Spielzeuge über die Trassen des Wittstocker Dreiecks. „Die da drüben ahnen wahrscheinlich nicht einmal, dass sie gerade an einem Massengrab vorbeirasen“, sagt sie. Zeiger, Anfang 50, blonde Ponyfrisur, zieht den Schal ein wenig höher. Auf dem Bohnekamp, einem der Hügel vor Wittstock, weht heute ein scharfer Wind.

Genau genommen ist es ein ehemaliges Grab – von Forschern ausgehoben, bevor ein Kiesbagger die letzte Ruhestätte von 125 jungen Männern zerstörte. Sie starben hier vor 400 Jahren in einer Feldschlacht, die zu den blutigsten in einem drei Jahrzehnte währenden Ringen zählt: dem Dreißigjährigen Krieg. Im Hügel selbst befindet sich ein alter Wasserspeicher, drinnen zeigt eine Rekonstruktion, wie sie dort lagen, in mehreren Schichten übereinander.

Von der erbarmungslosen Härte ihres letzten Kampfes zeugen exemplarisch die Knochen eines 1,80 Meter großen Mannes, den die Forscher Individuum 71 nannten. Sie identifizierten ihn als einen bei seinem Tod höchstens 24 Jahre alten Schotten. Eine Expertin des Brandenburgischen Instituts für Rechtsmedizin gab ihm ein Gesicht: Im Wasserspeicher schaut er einen heute als blasser junger Mann mit damals modischem Spitzbart an.

In seinen letzten Minuten traf den jungen Schotten eine Kugel in die rechte Schulter, der Aufprall verursachte mehrere Belastungsbrüche. Derart verletzt wurde er in den Nahkampf verwickelt. Eine Hellebarde durchdrang die rechte Schläfe, er muss augenblicklich zu Boden gegangen sein, wahrscheinlich besinnungslos, aber noch nicht tot. Ein Tritt zertrümmerte seinen Unterkiefer in drei Teile, er lag auf dem Rücken, als ihm ein Dolch in die Kehle fuhr, Luft- und Speiseröhre durchtrennte, einen Teil des zweiten Halswirbels absprengte. All dies geschah am 4. Oktober 1636 hier im Umkreis von wenigen hundert Metern.

Das Museum ist gut besucht

Wie damals heißt der baumlose Hügel immer noch Bohnekamp. Wie vor 400 Jahren bietet er gute Rundumsicht. Die mittelalterliche Mauer der Stadt Wittstock liegt keinen Kilometer entfernt. Im hochaufragenden, quaderförmigen Turm der dortigen Bischofsburg befindet sich das Museum für den Dreißigjährigen Krieg, das von Antje Zeiger geleitet wird.

Gerade kommt eine Schülergruppe aus der Ausstellung. Kostümiert wie Mägde und Söldner des 17. Jahrhunderts laufen sie über das Buckelpflaster des Burghofs. Einer schlägt eine Trommel, die älteren unter ihnen dürften ungefähr das Alter der jüngsten Opfer im Wittstocker Massengrab haben. Das Museum ist gut besucht, wird den 400. Jahrestag des Kriegsbeginns das ganze Jahr über mit Lesungen, Tagungen und verschiedenen Veranstaltungen begehen.

Der Krieg zwischen 1618 und 1648 wirkte über Jahrhunderte nach wie eine Metapher für die Apokalypse schlechthin. 20 Millionen Einwohner lebten damals im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Im Verhältnis zu dieser Zahl forderte der Konflikt mit geschätzten sechs Millionen Toten mehr Opfer als der Zweite Weltkrieg.

Beteiligt war halb Europa, gekämpft wurde überall zwischen der Ostsee und den Alpen – besonders schlimm war es in Schwaben, in Thüringen und im Rhein-Main-Gebiet, aber auch in Mecklenburg, in Pommern und Brandenburg ging die Bevölkerung um 70 Prozent zurück. Die Stadt Schwedt wurde zum Beispiel 32 Mal geplündert, nur 26 Bürger überlebten.

Es begann als religiöser Konflikt

Umso banaler wirkt der Anlass. Am 23. Mai 1618 warfen böhmische Protestanten drei Beamte aus dem Fenster der Prager Burg, ein Protest gegen den katholischen Kaiser, den sie beschuldigten, ihre freie Religionsausübung zu missachten. Doch was als scheinbar religiöser Konflikt begann, geriet zur Machtfrage auf dem Kontinent, die in wechselnden Koalitionen über Konfessionsgrenzen hinweg ausgefochten wurde. Weil sich die Heere von dem ernährten, was das Land hergab, durch das sie zogen, spielte es bald keine Rolle, ob Freund oder Feind vor den Toren stand. Die Folgen waren gleichermaßen furchtbar.

Die Expertin. Antje Zeiger leitet das Museum.
Die Expertin. Antje Zeiger leitet das Museum.

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Seltsam nur, dass ein Sterben derart epischen Ausmaßes in der deutschen Museumslandschaft so wenig Spuren hinterließ. Die Wittstocker Bischofsburg ist tatsächlich der einzige Ort, der sich ausschließlich diesem Thema widmet. Auf sieben Etagen des mittelalterlichen Gemäuers, die über knarzende Treppen bewältigt werden, erzählt die Schau von Ursachen, Hintergründen und Schicksalen dieses Konflikts.

Gegründet wurde das Museum 1998, lange bevor 2007 ein Kiesbagger durch Zufall nur ein paar hundert Meter entfernt auf menschliche Knochen stieß. Wie sich bald herausstellte, waren es ausschließlich Männer, bis auf wenige jüngere und noch weniger ältere Ausnahmen zwischen 20 und 29 Jahre alt. Ihr letzter Tag war der 4. Oktober 1636.

An jenem Morgen formierten sich die Kaiserlich-Katholischen Truppen ungefähr dort, wo heute das Wittstocker Gewerbegebiet liegt. Sie waren ein paar Tage früher aus Perleberg kommend eingetroffen und hatten sich inzwischen verschanzt. Die Schweden – unter ihnen auch Deutsche, Balten, Finnen und sehr viele Schotten wie Individuum 71 – hatten 500 Kilometer Eilmärsche hinter sich, waren den Fluss Dosse hochgezogen und erreichten erst jetzt den Südosten der Stadt.

Die Knochen aus dem Massengrab erzählen eine brutale Geschichte

Das Museum. In der Bischofsburg lernen Besucher viel über die Zeit von 1618 bis 1648.
Das Museum. In der Bischofsburg lernen Besucher viel über die Zeit von 1618 bis 1648.

© Alamy Stock

In Rufweite standen sie sich gegenüber. Die Wittstocker müssen sie gehört, wahrscheinlich sogar gerochen haben. Lunte riechen, der Ausdruck wurde damals geprägt, weil die Musketenschützen ihre Waffe mit einer Lunte entzündeten, die nicht erlöschen durfte. Im Gefecht hielten sie das qualmende Stück Schnur zwischen den Zähnen, um die Hände frei zu haben für die fünf Kilo schwere Waffe und die Röhrchen mit dem für jeden Schuss portionierten Pulver, die ihnen an einem Bandelier vor der Brust hingen.

Manch einer wird vorher noch einen Schluck Hochprozentiges zu sich genommen haben. Die Archäologen fanden kleine Zapfhähne auf dem ehemaligen Schlachtfeld. Andere rollten vielleicht ihre Glücksbringer in den schweißnassen Fingern hin und her, bis sie blank poliert waren. Kugeln mit eingeritzten Kreuzen zum Beispiel, die ebenfalls zu den Hinterlassenschaften gehörten. Oder sie warfen einen letzten Blick in ihr kleines Gebetbuch, Verschlüsse solcher Bände wurden auf dem Schlachtfeld entdeckt.

Gegen 14 Uhr kündigten die Trommeln den Beginn des Gemetzels an. Die Heere, etwas über 20 000 Mann auf kaiserlicher Seite, ein paar weniger auf der anderen, gingen aufeinander los. Die Schweden hatten zu Füßen der Hügel die ungünstigere Position inne, doch ihr Feldherr suchte die Entscheidung um jeden Preis. In den Krieg eingetreten als Schutzmacht der protestantischen Seite, waren sie inzwischen in der Defensive. Im Falle einer Niederlage würden sie sich vielleicht komplett zurückziehen müssen.

Es gibt einen Zeitgenossen, der von den folgenden Ereignissen berichtete: Hans Jakob von Grimmelshausen, dessen „Abenteuerlicher Simplicissimus“ gut 30 Jahre nach der Wittstocker Schlacht erschien. Sein Buch gilt als der erste Abenteuerroman in deutscher Sprache. Antje Zeiger ist stolz darauf, in ihrem Museum eine von nur 13 erhaltenen Originalausgaben präsentieren zu können.

Grimmelshausens Held taucht auch vor Wittstock auf, aufseiten der Kaiserlichen. Er beschreibt „das greuliche Schießen, das Geklapper der Harnische, das Krachen der Piken, das Geschrei der Verwundeten und der Angreifenden“, er sieht abgeschlagene Köpfe, hervorquellendes Gedärm, verspritztes Hirn.

Viele litten an chronischer Knochenhautentzündung

Ob Grimmelshausen wirklich dabei war, ist umstritten. Doch die Knochen aus dem Wittstocker Massengrab erzählen die gleiche brutale Geschichte. Um sie zu entschlüsseln, haben Experten die Gebeine der gefallenen Söldner vermessen und geröntgt, haben sie molekularbiologisch untersucht, sogar die Isotopenverhältnisse im Zahnschmelz analysiert.

Deshalb wussten sie bald, woher die Männer stammten, sogar zwei Spanier waren unter den geborgenen Opfern. So grausam, wie sie starben, so hart ging es für viele in ihrem Leben zu. Individuum 71 zum Beispiel, der junge Schotte, litt wie viele seiner Kameraden an chronischer Knochenhautentzündung im Unterschenkel, eine Folge ständigen Marschierens in schlechtem Schuhwerk.

Wegen der schweren Ausrüstung waren seine Hüft- und Schultergelenke durch anhaltende Überlastung bereits degeneriert, sie müssen ihm starke Schmerzen bereitet haben. Er hatte Karies, Knochenveränderungen an Gaumen und Kiefernhöhle sprechen ebenfalls für eine dauerhafte Entzündung vor allem der oberen Atemwege. Der Mann dürfte sehr viele feuchtkalte Nächte an qualmenden Lagerfeuern verbracht haben.

Der Stich mit dem Dolch, der ihm bis in den Halswirbel gefahren war, könnte ein Gnadenstoß gewesen sein, selbst leichter Verletzte hatten keine Chance auf Genesung. Der Schotte war eines von geschätzt bis zu 8000 Opfern der Schlacht. Mit einbrechender Dämmerung ging der Kampf seinem Ende entgegen.

Lange hatte es unentschieden gestanden, Fanfaren der Kaiserlichen kündeten schließlich sogar schon von ihrem Sieg. Doch nach einem riskanten schwedischen Flankenangriff löste sich die kaiserliche Linie doch noch auf. Der Rückzug war unvermeidlich, gipfelte in Flucht. Artillerie und Kriegskasse ließen die Kaiserlichen zurück, die Schweden waren wieder in der Offensive, der Krieg dauerte noch weitere zwölf Jahre.

Die meisten Opfer starben an Hunger

Die Schweden blieben etwa zwei Wochen in der Region. Und das Leid der Bürger von Wittstock fing damit erst an. Um 20 000 Mann zu verköstigen, mussten pro Tag 400 Zentner Brot gebacken, 50 Ochsen geschlachtet und 1200 Fässer Bier bereitgestellt werden. Für solche Mengen wurde das Land systematisch geplündert. In diesem Krieg starben die meisten Opfer nicht im Kampf, sondern an Hunger und an den Seuchen, die die umherziehenden Heere verbreiteten.

Das Sterben, es erreichte mit 305 Todesfällen bei einer Bevölkerung von rund 2200 Einwohnern 1636 einen ersten Höhepunkt. 1638 kam das schlimme Pestjahr, als wieder ein Heer durch die Region zog, 1599 Tote wurden registriert. Museumsleiterin Antje Zeiger erzählt von einer zeitgenössischen Darstellung Wittstocks, darauf ist zu sehen, dass in der Bischofsburg kaum ein Fenster mehr heil war. Erst 100 Jahre später hatte sich der Ort vom langen Krieg wieder erholt.

Heute ist Wittstock ein hübsches Städtchen. Mit dem Kopfsteinpflaster und den vielen Fachwerkhäusern erweckt die Altstadt beim flüchtigen Besucher den Eindruck, als ob die Kulisse ein bisschen jener ähnelt, die sich den damals durchziehenden Söldnern bot. Aber das ist eine Täuschung.

Die Wahrheit offenbart ein Schild an der Adler-Apotheke am Markt. 1716 legte ein Feuer die Stadt in Schutt und Asche. Was der Besucher sieht, ist also in weiten Teilen 18. Jahrhundert mit den zeittypischen traufständigen Häusern, vorher war es üblich, dass die Giebel zur Straße zeigten.

Schuld war 1716 nicht der lange Krieg, sondern angeblich der Apotheker Georgi. Er hatte beim Zapfen von Hochprozentigem nicht aufgepasst und den Stadtbrand ausgelöst. Wittstock erholte sich auch davon.

Reisetipps für Wittstock

Hinkommen

Mit dem Auto etwa 120 Kilometer auf der A24 in Richtung Hamburg. Der Regionalexpress braucht ab Gesundbrunnen knapp zwei Stunden (13,20 Euro).

Unterkommen

Das Hotel Röbler Thor liegt am Rand der Altstadt, Doppelzimmer ab 85 Euro inklusive Frühstück (roebler-thor.de).

Rumkommen

Das Museum in der Alten Bischofsburg ist täglich außer Montag geöffnet, am Wochenende 11 bis 16.30, wochentags 9 bis 16 Uhr, freitags bis 14 Uhr, Eintritt 4,50 Euro. mdk-wittstock.de

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