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Chai puristisch: In seinen Tee gibt Jens de Gruyter nur Gewürze aus Indien. Und einen Tropfen Milch.

© Mike Wolff

Masala Chai: Echt scharf!

Er duftet nach Weihnachten, Kardamom und weiter Welt: der süße Chai Latte – eine Erfindung des Westens. Wie schmeckt das Original?

Grünen Tee, weißen Tee, Lapsang Souchong, Assam, Darjeeling, Earl Grey ... Alles würde Martin Krieger probieren, wozu ist er denn Experte auf dem Gebiet. Nur eine Spielart rührt er freiwillig nicht an: Chai Latte. Den findet er lächerlich.

Der 49-Jährige, Historiker an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, hat 2009 eine Kulturgeschichte des Tees geschrieben, die, obwohl inzwischen vergriffen, deutschen Connaisseuren als Standardwerk gilt. Verheiratet mit einer Inderin, die in deutschen Cafés oft automatisch einen Chai Latte angeboten bekommt, bewirtschaftet er selber eine Teeplantage im indischen Kotagiri.

Will man also wissen, warum die Deutschen seit Jahren verrückt sind nach eben diesem Chai Latte, fragt man am besten ihn, Krieger. Und der sagt dann: dass es das Getränk zwei Mal gibt. Einmal heißt es Masala Chai, „das ist die original-indische Version“. Dazu brühe man Schwarztee auf, würze diesen mit Kardamom, Ingwer und etwas Zimt und kippe einen Schluck Milch hinzu. Den Chai Latte dagegen, „den haben wir Westler erfunden und ein indisches Label draufgeklebt. Die Inder lachen nur, wenn ich ihnen erzähle, dass Chai Latte bei uns als authentisch gilt.“

Man kriegt ihn bei Starbucks, McCafé, Balzac und Costa

Die Geschichte des Chai Latte ist eine Geschichte der Missverständnisse. Es beginnt ja schon beim Namen: „Chai Tea Latte“ heißt das Getränk bei Starbucks, wie der Kaffee zu kaufen in den Varianten groß, größer, am größten. „Chai heißt Tee“, sagt Krieger. „Übersetzt bedeutet Chai Tea Latte demnach Tee Tee Milch.“

Wenn es nur das wäre.

Chai Latte ist überall, seit Jahren nennen Food-Blogger ihn ein Trendgetränk. Von September 2014 bis September 2015 stiegen die Chai-Produktschöpfungen weltweit um 20 Prozent, fand eine Marktforschungsstudie heraus. Besonders deutsche Frauen zwischen 16 und 24 seien demnach bereit, viel Geld für solch besondere Teesorten zu bezahlen. 23 043 Starbucks-Filialen führen Chai Latte weltweit im Programm, die McCafés ebenso. Man kriegt ihn bei Balzac Coffee, bei Costa und in den deutschen Filialen der San Francisco Coffee Company. Besonders jetzt, in der Vorweihnachtszeit, kann man Chai Latte aber auch in Kleinstcafés von Münster bis Passau bestellen, oft als Schoko-, Vanille-, oder Karamellversion.

Wer Chai Latte – oder kurz: Chai – als Hashtag bei Instagram sucht, findet rund eine Million Bilder. Die Kardashian-Schwestern Kim und Khloe lassen sich gern damit fotografieren, besonders Khloe bezeichnet sich auf Twitter als süchtig. In Zeiten, in denen der einst cool klingende Studi-Spruch „But first: coffee“ zur Binsenweisheit verkommen ist, gedruckt auf Tausenden T-Shirts und Beuteln, müssen sich Chai-Latte-Trinker fühlen wie Revolutionäre. Freilich ohne ihre Allerweltsgaumen zu überfordern. Dafür hat Starbucks gesorgt.

20 Teelöffel Zucker in einem Becher

Dort lagert der Chai als dickflüssiger Sirup im Tetra-Pack unterm Tresen. „Highly Concentrated Spiced Black Tea“ steht darauf. Zutaten: Wasser, schwarzer Tee, Zucker, Pfeffer, Ingwer, Kardamom, Zimt, Gewürznelken, Sternanis, Honig, Ingwersaft, Vanille-Extrakt, Zitronensäure, natürliche Aromen. Das Sirup rühren Angestellte mit Milch und Wasser an und gießen es in Tassen und To-Go-Becher. 4,85 Euro kostet das Endprodukt in der Venti-Größe. Und schmeckt unglaublich süß.

Wie süß, fand in diesem Jahr eine britische Studie der „Action on Sugar“-Kampagne heraus. Danach enthält der große Becher „Chai Tea Latte“ rund 13 Teelöffel Zucker, die Variante der vor allem in Großbritannien ansässigen Kaffeehauskette Costa sogar 20 Teelöffel.

In Indien, sagt Martin Krieger, schmecke der Tee nicht halb so zuckrig und außerdem überall anders. Tee sei ein Naturprodukt, abhängig von Regen, Hitze, Erntezeit. Auch deshalb trinke er nie bei Starbucks, da schmecke der Sirup immer gleich. Reist er einmal im Jahr zur Familie seiner Frau nach Indien, freut er sich immer schon auf den Masala Chai: kein Gewürzpotpourri, keine brachiale Süße, stattdessen vielleicht ein paar Kardamomkapseln und etwas Ingwer, manchmal auch schwarzer Pfeffer oder Nelken, aber niemals alles zusammen. „Der Geschmack des einzelnen Gewürzes wird dadurch stärker, der Tee delikater. Jede Familie und Region, jeder Teestand hat da sein eigenes Rezept“, sagt Martin Krieger.

Für Gandhi war Chai ein Symbol der Unterdrückung

Erfunden haben die Inder den Masala Chai zu Beginn des 20. Jahrhunderts – unter ungewollter Mithilfe der Briten. Als diese Mitte des 19. Jahrhunderts das Land kolonialisierten, übernahmen sie auch die Teeplantagen in Assam, Darjeeling und Kerala. Die Blätter ernteten und verschifften sie dann in Kisten nach Hause, Nachschub für die Five’o’clock-Trinker der Heimat. Auch den indischen Arbeitern auf den Plantagen wurde der Tee ausgeschenkt, aufgefüllt mit Zucker und Milch.

So verabreicht, ersetzte das Getränk ganze Mahlzeiten und entwickelte sich zum Pausentee der Arbeiterklasse. Was nicht allen gefiel. Kämpfer für die Unabhängigkeit, allen voran Mahatma Gandhi, verteufelten Chai zunächst als Symbol der Unterdrückung.

Trotz der Mahnungen verbreitete sich der Tee in Indien. In besseren Gesellschaften tranken die Einheimischen ihn ungesüßt, Arbeiter fügten weiter Milch und Zucker hinzu, irgendwann auch ein paar Gewürze, um den Tee zu verfeinern. Noch vor dem ersten Weltkrieg sei der klassische Masala Chai erfunden gewesen, sagt Martin Krieger. Es sollte rund 80 Jahre dauern, bis daraus Chai Latte wurde.

Masala Chai erobert Kalifornien

Diese zweite Entwicklung beginnt in einem Flachbau in Santa Cruz, Kalifornien. Raphael Reuben, ein polyglotter Amerikaner mit Indien-Faible, entdeckte im Jahr 1975 in seiner Heimat ein neues Restaurant, das Indian Joze. Die Betreiber führten neben Tandoori-Chicken auch jenen Masala Chai, den Reuben von seinen Reisen in indische Ashrams kannte und dort so gerne trank. Begeistert bestellte er ein Glas und beschloss, dass jener Abend im „Joze“ ein Anfang sein sollte. Er gründete die Masala Tea Company, orderte Schwarztee zu sich nach Hause und mischte ihn mit Gewürzen. Den fertigen Tee füllte er in Gallonen ab und versuchte, diese an Restaurants und Kaffeehäuser zu verkaufen.

„Niemand wusste, was ich da eigentlich anbot“, sagte Reuben 17 Jahre später der „Seattle Times“ über jene komplizierten Anfangsjahre. Da eroberte sein Masala Chai längst die Westküste. Es war die Zeit, da die Kalifornier in Yogastudios zu strömen begannen und sogenannte Powerbeads trugen, Buddha-Armbänder, modern interpretiert. Eine Sehnsuchtszeit.

Auch Starbucks fiel der Erfolg Reubens auf. Eigentlich propagierte das Unternehmen ja die Kaffeekultur. Aber man suchte nach Alternativen und führte 1997 testweise Masala Chai ein – den Namen allerdings übernahmen sie nicht. Stattdessen eben: „Chai Tea Latte“.

"Wir stehen gerade am Anfang eines Booms"

Jens de Gruyter kennt die Geschichte von Starbucks. „Man kann sehr viel daraus lernen“, sagt er. „Sie erkannten immer wieder Trends und machten daraus Bewegungen.“ De Gruyter, 44, ist ein hochgeschossener Mann mit silbrigen Haaren und Pianistenfingern, der sein Geld in eine Firma in Berlin investiert hat: Paper and Tea.

Wenn Starbucks für billig produzierten Teesirup steht, repräsentiert de Gruyter das andere Ende des Spektrums: Für die Herstellung seiner Tees reist er mehrmals pro Jahr nach China, Indien und Japan, spricht mit Kleinbauern, bestellt Blätter und verarbeitet diese schließlich in Berlin. Ein Chai kostet bei de Gruyter 14 Euro pro 100 Gramm, er verwendet dafür ausschließlich Gewürze aus Indien: ganze Kardamomkapseln, Ingwer, Zimt. „Wenn ich recht habe“, sagt de Gruyter, „hängt die Teekultur der Kaffeekultur um Jahre hinterher, und wir stehen gerade am Anfang eines Booms.“

In seinem Concept-Store in Berlin-Mitte brüht er einen Chai auf, er will zeigen, dass guter Tee keine Frage des Landes ist, in dem man ihn trinkt. Fünf Minuten köchelt er vor sich hin, zieht schließlich noch einige Minuten auf einem Stövchen. Dann gießt de Gruyter ihn in kleine Tässchen und fügt noch einen Tropfen Milch hinzu.

Dezent entfalten sich Kardamom und Ingwer, cremig umspülen Tee und Milch die Zunge. Zuerst ist es nur ein warmes Kitzeln am Gaumen, dann breitet sich die ganze Kraft dieses Gewürztees im Körper aus und wärmt ihn von innen gegen die Kälte des angebrochenen Winters. Ganz klar: Das ist kein Chai Latte. Das ist Masala Chai.

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