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Der Küche ganz nah. Die Gäste im "Ernst" sitzen direkt am Zentrum des Geschehens.

© Kai Röger

Von Tisch zu Tisch: Ernst

Kaum ein deutsches Restaurant polarisiert zurzeit stärker: Hier geht es ausschließlich ums Produkt und seine Qualität.

Über den Töpfen muss die Freiheit grenzenlos sein. Küchenchefs können heute machen, was sie wollen, sofern sie gewisse rote Linien beachten, an denen „versalzen!“ oder „übergart!“ steht. Für das, was auf einem Teller versammelt werden darf, gelten kaum noch Regeln, das alte Lob „harmonisch“ ist eher zum Langeweile-Label geworden, und selbst wer Matjesfilets mit weißer Schokolade überzieht und mit Mehlwürmern und Ameisen schmückt, wird damit kaum noch Aufsehen erregen.

Aber es gibt Köche, die das Überambitionierte, Überwürzte, Überdekorierte, kurz: die Streberteller der aktuellen Gourmetküche leid sind. Viele Köche werden puristischer, aber einer übertrifft sie alle: Dylan Watson-Brawn kocht in Wedding eine Zen-artige Stilistik, japanisch (fast) ohne japanische Produkte – man merkt dem Essen im „Ernst“ an, dass er am liebsten ein Menü völlig ohne Zutaten komponieren würde. Scherz beiseite: Ich habe mich mit einem Besuch schwergetan, weil ich eine Mischung aus Volkshochschule und Performance befürchtete – aber nichts könnte unzutreffender sein.

Im Verlauf des Abends stellt sich das Gefühl einer Sinnesschärfung ein

Es kommt auf den Tresen vor der offenen Küche, was gerade frisch da ist, plusminus 25 kleine Gänge für zwölf Gäste. Hier gibt es nur Produkte, deren Erzeuger persönlich bekannt sind. Die Köche, die die Teller meist auch zum Gast tragen, agieren auffällig uneitel und aufgeschlossen, zeigen kein einziges Tattoo. Ihr Enthusiasmus ist nicht gespielt, sie freuen sich wirklich über den ersten Mangold, der hier knapp gedünstet mit einer intensiv nussigen Creme von Sonnenblumenkernen arrangiert wird. Kopfsalat, zwei Stunden vorher noch am Leben, wird nur mit einem Holunderblütenauszug benetzt, Gewürze und Zucker spielen keine Rolle, Salz liegt oft separat auf dem Teller. Und diese Teller kommen in dichter Folge, das Ganze dauert nur etwa drei Stunden. Aber im Verlauf dieser drei Stunden stellt sich tatsächlich das Gefühl einer Schärfung der Sinne ein, das die Wahrnehmung verändert. Noch nie ist mir das wunderbare Eigenaroma eines frischen Steinbuttfilets so anhaltend und intensiv vorgekommen wie hier, wo es nur kurz über einer offenen Flamme gewendet und dann mit etwas geräucherter Butter überzogen wird. Vorher hatten schon dünne rohe Scheiben von Scholle und Flunder mit Salz und einem Hauch Wasabi zeigen können, dass sie in dieser makellosen Qualität weder Remoulade noch Panade brauchen, um zu glänzen.

Schon der Frische wegen kommt das Meiste hier aus der Nähe

Der Ansatz ist nur insofern regional zu nennen, als die meisten Lieferanten schon aus Frischegründen in der Nähe arbeiten. Aber die Fische sind aus der Ostsee, es kommen Zitrone und Yuzu vor, und der echte Wasabi wird kurioserweise in England angebaut. Dünne Stängelscheiben davon liegen zum Beispiel in einem milden Dashi-Sud auf Shawanmushi, einem japanischen Eierstich. Radieschenstücke werden mit Robinienblüten in einem leicht sahnigen Aufguss aus eben jenen Blüten serviert, dann gibt es ein fluffiges Stück Brioche mit Butter und kleinen Streifen von Ringelblumenblüten. Spargel taucht gleich viermal auf, weiß mit geröstetem Kamillengrün und gesalzener Butter, die vom berühmten schwedischen Restaurant „Fäviken“ stammt, später gratiniert, schroff gegrillt mit eingekochter Sahne… Und so weiter.

Auch beim Wein müssen durchweg persönlich bekannte Winzer ran, die unweigerlich dem diffusen „Natur“-Stil anhängen. Das bedeutet: Unter 40 Euro die Flasche läuft nichts, und die optionale Weinbegleitung kostet 85 Euro; Christoph Geyler, Restaurantleiter und Sommelier, konzentriert sich dabei aber auf Gelungenes, das ist auch für Natur-Verächter akzeptabel.

Schnell sind für zwei Personen 500 Euro ausgegeben

Zählen wir zusammen: 165 Euro pro Menü (vorab per Kreditkarte zu zahlen), dazu teure Getränke – schnell sind für zwei 500 Euro und mehr weg. Ist es das wert? Wer bereit ist, von festgefügten Vorurteilen Abschied zu nehmen, der kann hier Außergewöhnliches erleben. Wer Gourmetküche allerdings vor allem als Demonstration technischer Virtuosität versteht, sollte eher einen Bogen ums „Ernst“ machen. Mal sehen, was über die Jahre draus wird.

Ernst, Gerichtstr. 54, Wedding, Mi-So ab 19 Uhr, Reservierung unter ernstberlin.de

Dieser Beitrag ist auf den kulinarischen Seiten "Mehr Genuss" im Tagesspiegel erschienen – jeden Sonnabend in der Zeitung. Hier geht es zum E-Paper-Abo. Weitere Genuss-Themen finden Sie online auf unserer Themenseite.

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