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Nehmerqualität. Gibt es Sätze, die ihn noch treffen? Ünsal Arik sagt: „Ich glaube, ich habe inzwischen alles gehört".

© Stefan Weger

Ünsal Arik wird mit dem Tod bedroht: Er wusste, dass es schwierig werden würde in Berlin

Neukölln? Meidet er. Der Box-Europameister Ünsal Arik wird massiv bedroht und beleidigt. Weil er den türkischen Präsidenten einen „Diktator“ nennt.

Die ersten Tage in Berlin-Wedding: viele böse Blicke erhalten, ein paar Mal beleidigt worden, einige Leute baten um Selfies. In der U 9 stellten sich zwei Männer vor ihn, sagt er, und unterhielten sich lautstark darüber, dass der „Hurensohn“, dieser „Bastard“, sich nun also tatsächlich nach Berlin getraut habe. Ünsal Arik tat, als ob er nichts höre und blickte runter auf sein Smartphone.

Er sagt, er habe gewusst, dass es schwierig werden würde in Berlin. Dass sich unter den hier lebenden Türken viele Erdogan-Anhänger befinden, die ihn für einen Landesverräter halten, ja regelrecht hassen. Beim Treffen in einem Café am Leopoldplatz sagt er: „Früher hat es mir mehr ausgemacht.“ Es habe gedauert, doch mittlerweile habe er begriffen, dass es wirklich nichts über seine Mutter aussagt, wenn ihn jemand „Hurensohn“ schimpft. „Dass sehr wohl aber die Eltern meines Gegenübers versagt haben, zumindest in ihrer Erziehung.“

Es geschieht selten, dass ein prominenter Sportler türkischer Herkunft in der Öffentlichkeit Recep Tayyip Erdogan kritisiert. Ünsal Arik, 38, amtierender Box-Europameister, tut es ständig. Er nannte den türkischen Präsidenten einen „Diktator“, einen „Menschenrechtsbrecher“, einen „bösen Menschen“. Dafür erhält er Morddrohungen. Polizeischutz, sagt er, bislang nicht.

Im Café am Leopoldplatz sitzt Ünsal Arik hinten links in der Ecke, bestellt sich Bananenbrot und behält den Raum im Blick. Man wisse ja nie, sagt er, wann einmal irgendwo ein Verrückter mit dem Messer auftauche. Seine Frau frage ihn gelegentlich, ob er bereits paranoid geworden sei. „Nee“, antworte er dann, „nur vorsichtig.“

Mitte September sind beide aus Bayern hergezogen. In Berlin will sich Ünsal Arik auf seinen nächsten Kampf vorbereiten, Mitte November könnte er einen Titel eines Weltverbandes erringen. Zum Training fährt er jeden Tag in den Wedding, die Vormittage verbringt er im Boxstudio, die Nachmittage in einem Fitnessstudio in der Müllerstraße. In welchem Bezirk das Paar wohnt, darf nicht in der Zeitung stehen.

„Es tut mir weh zu sehen, wie Erdogan in der Türkei Stück für Stück die Demokratie abschafft“, sagt Arik. Er spricht breiten oberpfälzischen Dialekt, ist in Parsberg geboren, einer 7000-Einwohner-Stadt nordwestlich von Regensburg, besitzt die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft. Es sei zum Verzweifeln, sagt er, dass so viele Menschen mit Biografien wie seiner Erdogan verehrten. Die informierten sich nicht. Er sagt aber auch: Deutschland trägt Mitschuld daran.

"Was für ein Denkfehler", sagt Ünsal Arik

Seine Feinde werfen ihm vor, Ünsal Arik kritisiere Erdogan bloß, weil er wisse, dass er damit Deutschen gefalle. Seine Äußerungen seien nichts als PR, um seine Boxkarriere anzukurbeln. „Was für ein Denkfehler“, sagt Ünsal Arik. Bekannt gemacht habe ihn schließlich nicht seine politische Haltung, sondern der Hass der Erdogan-Fans auf ihn. Wenn schon PR, dann sei sie ihm von seinen Gegnern geschenkt worden.

Das erste Mal geriet er vor sechs Jahren in den Fokus. Bei einem Boxkampf in der westtürkischen Stadt Tekirdag trat er in einem weißen T-Shirt an, auf dem in blauen Druckbuchstaben „Bu Ülke Atatürkün, Tayyipin degil“ geschrieben stand. Auf Deutsch: Das Land gehört Atatürk, nicht Tayyip.

Seit drei Jahren waren er nicht mehr in der Türkei

Fotos davon verbreiteten sich übers Internet, das Fernsehen berichtete. Can Dündar, der Journalist und einstige Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, der später aus der Türkei fliehen musste und inzwischen ebenfalls in Berlin lebt, interviewte ihn damals in seiner Sendung, fragte nach den Reaktionen in der Boxhalle. Arik antwortete, die Veranstalter hätten ihm das Tragen des Shirts eigentlich verbieten wollen. Deshalb habe er es beim Einmarsch unter seiner Trainingsjacke versteckt und erst im Ring gezeigt.

Nach dem Interview erhielt er massenweise Drohungen. „Ich habe das unterschätzt. Als jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, hatte ich einfach andere Maßstäbe.“ In der Bundesrepublik wäre der Spruch schließlich eine normale, selbstverständlich zulässige Meinungsäußerung gewesen.

Linke Gerade. Im November boxt Arik um einen Titel.
Linke Gerade. Im November boxt Arik um einen Titel.

© Imago/Kolbert-Press

Seit drei Jahren reist Arik nicht mehr in die Türkei. Es laufen Verfahren gegen ihn, seine Anwältin rät von Besuchen ab. Sie glaubt, er könnte direkt am Flughafen festgenommen werden. Das Risiko sei groß, dass er dann, wie so viele Oppositionelle, jahrelang im Gefängnis säße, ohne dass es überhaupt zum Prozess komme. Werde doch einer eröffnet, müsse Arik mit einem Willkürurteil rechnen. Beispiele gab es in den vergangenen Wochen einige. Anfang September wurde die Oppositionspolitikerin Canan Kaftancioglu wegen kritischer Tweets zu zehn Jahren Haft verurteilt. Eine Instagram-Nutzerin erhielt sieben Jahre. Sie hatte öffentlich die Netflix-Serie „Narcos“ gelobt.

Zwei Kurden bedanken sich

Ein Dienstagnachmittag im Studio Fit/One in der Müllerstraße. Draußen schüttet es, drinnen will Arik gleich mit dem Training beginnen. Seine Übungen absolviert er im separaten VIP-Bereich, und er bittet, erst dort Fotos zu machen, er wolle die Erdogan-Anhänger, die es auch hier im Studio gibt, nicht unnötig provozieren. Besonders aggressiv, sagt er, verhielten sich ihm gegenüber oft Migranten arabischer Herkunft. „Die glauben, Erdogan verteidigen zu müssen, weil sie ihn für einen Fürsprecher des Islam halten.“ Die Anfeindungen bleiben an diesem Tag aus. Stattdessen kommen zwei Kurden zu ihm und bedanken sich.

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Ünsal Arik sagt, er wolle sein Engagement, seine wiederholte öffentliche Kritik an Erdogan, keinesfalls einen Fehler nennen, denn dann würde er ja den Kampf für Demokratie als Fehler bezeichnen. „Aber es gibt etliche Momente, in denen ich meine Entscheidung bereue. Ich hätte nicht gedacht, dass man mich derart allein lässt.“ Gerade deutsche Politiker müssten Erdogan expliziter verurteilen – und einen wie ihn unterstützen. „Ich sehe da viel Feigheit und wenig Rückgrat.“

Er verstehe deren Sorge, das Flüchtlingsabkommen mit dem türkischen Präsidenten zu gefährden, doch durch Wegducken und Alles-Hinnehmen könne man das sowieso nicht retten. Feige nennt Arik auch Unternehmen wie jenen Elektro-Versandhändler, der am Ende dann doch keinen Werbefilm mit ihm machen wollte – aus Sorge, türkische Kunden zu verprellen. Oder die Fernsehshow, in die er nicht durfte, weil die Macher ihn „zu politisch“ fanden. Oder die Prominenten, die sich zwar gern mit ihm abgäben, beim gemeinsamen Foto dann aber bäten, dieses bloß nicht ins Netz zu stellen.

Am 16. November wird Arik seinen nächsten Kampf bestreiten, in Bergheim bei Köln. Die Region ist AKP-Hochburg. Arik sagt: „Wenn die Halle geschlossen den Gegner anfeuert, ist das in Ordnung.“ Gibt es Beleidigungen, die ihn noch treffen? „Ich glaube, ich habe inzwischen alles gehört.“ Manche sprächen ihm seine Herkunft ab, sagten „du siehst überhaupt nicht türkisch aus“ oder „lass mal dein Blut kontrollieren!“ Ach doch, dann fällt ihm etwas ein, was ihn wirklich entsetzt habe: „Wir graben die Leiche deiner Mutter aus und ficken ihr Skelett.“

Ünsal Arik beim Training in einem Weddinger Sportstudio.
Ünsal Arik beim Training in einem Weddinger Sportstudio.

© Stefan Weger

Erdogans Popularität in Deutschland liege auch an Diskriminierungserfahrungen von Migranten. An Benachteiligungen bei Wohnungs- und Jobsuche. An der Tatsache, dass sich im Bus niemand neben sie setze, es sei denn, es ist kein anderer Platz mehr frei. „Und dann kommt einer wie Erdogan und sagt: Die Deutschen behandeln euch schlecht. Ihr seid hier Menschen zweiter Klasse.“ Auch er selbst habe sich lange von Deutschen ausgegrenzt gefühlt, „wenn ich ehrlich bin, habe ich euch sogar gehasst.“

Seine Eltern wollten für ihn eine türkische Frau

Sein Vater und seine Mutter kamen Mitte der 1960er Jahre ins Land, lernten sich hier kennen. Erst arbeiteten beide bei einer Metallfirma, Montage am Fließband, später bei Grundig. „Sie meinten es nicht böse“, sagt er, „aber nach ihren eigenen schlechten Erfahrungen haben sie uns vermittelt, dass wir Türken hier die Minderheit sind, also zusammenhalten müssen.“ Bei ihm zu Hause seien Sätze gefallen, die aus heutiger Sicht unglaublich klängen. Seine Eltern erklärten ihm, er müsse sich unbedingt eine türkische Freundin suchen. Lediglich eine Türkin verstehe einen türkischen Mann: „Nur die weiß, was du brauchst. Die deutschen Frauen lassen dich am Ende selbst kochen. So haben wir zu Hause geredet.“

Im Schulunterricht habe ein Lehrer ihm erklärt: „Aus dir Scheißtürke wird eh nichts.“ Als seinem türkischen Klassenkameraden die Federmappe auf den Boden fiel, habe derselbe Lehrer vorgeschlagen, sie einfach liegen zu lassen: „Bei euch in der Muschi, ach nein, Moschee, sitzt ihr doch eh alle auf dem Boden.“

Zwei Wochen Jugendarrest

Die deutsche Justiz habe Arik als Jugendlicher ebenfalls gehasst. Nach einer Massenschlägerei in der Schule bekam er zwei Wochen Jugendarrest, und das war verdient, sagt Arik heute. Aber der Deutsche, der mit einem Baseballschläger auf seinen Kopf eindrosch, sei straffrei davongekommen. „Es hat noch nicht mal jemand gefragt, was der Typ mit einem Schläger auf dem Schulgelände wollte.“ Später habe er es den Deutschen heimzahlen wollen. Er habe Straftaten begangen, Unschuldige geschlagen, mehrfach Betrug begangen. Arik sagt, er könne nicht konkreter werden. Er weiß nicht, ob die Taten bereits verjährt sind.

Wie falsch er lag, begriff er, als er schon seine Boxkarriere begonnen hatte und für einen Kampf nach Ghana flog. In der Hauptstadt Accra besuchte er ein Armenviertel in der Nähe des Flughafens, betrat dort die Moschee zum Freitagsgebet. Zu seiner Verwunderung war das Gebäude gleichzeitig eine Kirche, Muslime und Christen feierten ihre Gottesdienste parallel. „Ich dachte: Was machen diese schrecklichen Menschen in unserer Moschee?“ Der Imam habe dann nach seinen Händen gegriffen, „mein Junge“, habe der Mann gesagt, „wir teilen hier Wasser und Brot, mehr Sorgen haben wir nicht.“

"Die Fanatischen wirst du nie ändern können"

Beim Treffen im Café am Leopoldplatz sagt Ünsal Arik, er überlege sich in Berlin genau, in welchen Bezirken er sich aufhalte. Neukölln meide er ganz, nach Kreuzberg gehe er nur, wenn er Freunde dabei habe. Neulich habe ihn ein Türke in der Revaler Straße in Friedrichshain angeschrien und ihm den Wolfsgruß entgegengestreckt, das Zeichen der türkischen Faschisten. Arik sagt: „Die Fanatischen wirst du nie ändern können, die werden mich immer hassen. Aber ich spüre, dass einige Respekt davor haben, dass ich standhaft bleibe.“ Letztens sei ein Fremder auf ihn zugegangen und habe gesagt: „Hey, ich mag dich wirklich nicht, aber du hast Charakterstärke, du lässt dich nicht verbiegen.“

Vor ein paar Wochen hat Ünsal Arik wieder Post von der türkischen Staatsanwaltschaft erhalten. Diesmal hat Erdogan persönlich Anzeige gegen ihn erstattet – wegen Mordversuchs. Der Präsident bezieht sich auf ein Musikvideo von vor zwei Jahren, in dem Arik über Erdogan rappte. In einer Zeile heißt es: „Mein Hass ist so groß, dass ich dein Grab eigenhändig schaufeln und dich reinlegen werde.“ Arik sagt, für ihn sei das Kunstfreiheit, aber ihm sei klar, dass ein türkischer Richter wohl anders entscheiden würde. Er hat den Brief der Staatsanwaltschaft nicht beantwortet. Er sagt, er wusste nicht, was er da noch sagen sollte.

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