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Protestierende bei der Demonstration des Erfurter Buendnisses „Auf die Plaetze“ am 20.01.2024 auf dem Domplatz in Erfurt.

© picture alliance / epd-bild/Paul-Philipp Braun

Wahl in Thüringen: Riskante Rettungsversuche

Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp analysiert Vorschläge, die Thüringer Verfassung zu verändern, um eine Wahl von Björn Höcke zum Ministerpräsidenten zu erschweren

Von Pepe Egger

Ein Gespenst geht um im Freistaat Thüringen – oder eher eine gespenstische Aussicht: dass Björn Höcke nach der Landtagswahl Ministerpräsident werden könnte. Denn Höcke, Landessprecher der Alternative für Deutschland (AfD) in Thüringen und Spitzenkandidat der Partei bei den Landtagswahlen am 1. September, könnte laut Artikel 70 der Thüringer Verfassung auch dann zum Ministerpräsidenten gewählt werden, wenn die AfD zwar stärkste Fraktion wird, aber alleine keine absolute Mehrheit hat oder auch nicht von einer anderen Partei gestützt wird.

Diese Möglichkeit ist für viele Menschen deshalb so erschreckend, weil Björn Höcke zum sogenannten völkischen Flügel der AfD zählt und sich immer wieder in Büchern oder Reden auf eine Art und Weise geäußert hat, die den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlässt. Laut einem Gerichtsurteil darf man ihn als Faschisten bezeichnen; CDU-Chef Friedrich Merz nannte ihn vor einigen Wochen einen „Nationalsozialisten“.

Was auf dem Spiel steht

Laut Umfragen aus dem Januar dieses Jahres ist die AfD in Thüringen die stärkste Partei, sie liegt zwischen 31 und sogar 36 Prozent, weit vor der zweitstärksten Partei, der CDU, die rund 20 Prozent der Wähler favorisieren. Die Möglichkeit, dass die AfD im September als Wahlsiegerin hervorgeht, ist also real, ebenso, dass die Partei ungefähr ein Drittel der Sitze im Landtag erringen könnte.

Nun besagt Artikel 70 der Landesverfassung, dass der Ministerpräsident vom Landtag „mit der Mehrheit seiner Mitglieder“ in geheimer Abstimmung gewählt wird. Aber was passiert, wenn niemand eine Mehrheit erhält? Dann findet ein zweiter Wahlgang statt. Wenn auch in diesem niemand eine Mehrheit bekommt, wird es knifflig: Dann, so sagt die Verfassung, „ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält“.

Schaffen es die anderen Parteien nicht, sich auf einen Gegenkandidaten zu Höcke zu einigen, könnte dieser auch allein mit den Stimmen der AfD gewählt werden. Die Aussicht führt schon seit einiger Zeit zu Überlegungen und Vorschlägen, die Verfassung zu ändern, um genau das zu verhindern beziehungsweise um Klarheit in puncto Wahl des Ministerpräsidenten zu schaffen.

Die Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp, Leiterin der Arbeitsstelle Politisches System der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, was hier auf dem Spiel steht. Und ob die verschiedenen Vorschläge, die die Demokratie vor der AfD retten wollen, nicht auch ein Risiko bergen, genau diese Demokratie zu beschädigen. Sabine Kropp hat sich dazu auch als geladene Expertin in einer Anhörung im Verfassungsausschuss des Thüringer Landtags und in mehreren Artikeln und Stellungnahmen geäußert.

Sabine Kropp leitet den Arbeitsbereich „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland“ am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.

© privat

Für sie ist die Diskussion um eine Verfassungsänderung zur Regelung der Wahl des Ministerpräsidenten nicht neu: „Darüber wird schon seit Jahren immer wieder diskutiert“, sagt sie. „Aber jetzt gibt es für mehrere Akteure einen erhöhten Handlungsdruck.“ Die technischen Details des zu lösenden Problems bestehen darin, dass nicht klar oder eindeutig geklärt ist, wie der Passus der Thüringer Verfassung zum dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten auszulegen ist, wenn es keinen Gegenkandidaten gibt. Muss ein Einzelkandidat oder eine Einzelkandidatin mehr Ja-Stimmen als Nein-Stimmen auf sich ziehen? Darüber streiten sich Interpreten.

Sabine Kropp sagt, für sie führten diese Interpretationsschwierig- keiten in Thüringen derzeit „zu einer typisch deutschen Ausweichstrategie, mit der eine politische Frage über den Weg des Rechts geklärt werden will: Die demokratischen Parteien greifen zu rechtlichen Instrumenten, weil sie sich politisch nicht einigen können“. Ein Vorschlag zur Änderung der Verfassung stammt aus der Thüringer CDU. Hintergrund ist die besondere Lage der CDU in dem Bundesland, die nicht einfach ist: Ein Unvereinbarkeitsbeschluss verwehrt der Partei die Zusammenarbeit mit der AfD, ein zweiter die mit der Linken.

Weil man aber alleine nicht stark genug ist, ohne eine der beiden Parteien eine Mehrheitskoalition auf die Beine zu stellen, kann die CDU weder vor noch zurück. Ohne sie geht derzeitigen Umfragen zufolge nichts, mit ihren möglichen Partnern aber will oder kann sie nicht: Es gab schon günstigere Ausgangslagen für eine Landtagswahl.

Warnung vor den Folgen

Das ist der Hintergrund des Vorschlags der CDU für eine Verfassungsänderung: Man will den Passus zur Wahl des Ministerpräsidenten so umschreiben, dass im dritten Wahlgang ein Einzelbewerber nur dann als gewählt gilt, wenn er oder sie mehr Ja- als Nein-Stimmen erhält. Sabine Kropp versteht die Intention dahinter. Aber sie warnt vor einer möglichen Folge dieser Regelung: „Der Vorschlag wirkt zunächst unscheinbar, aber er könnte weitreichende Folgen haben – nämlich dann, wenn eine destruktive Mehrheit einen Einzelkandidaten verhindert, ohne selbst einen anderen Kandidaten aufzustellen.“

Was sollte dann folgen? Dass der Landtag sich auflöst und es Neuwahlen gibt. „Das Selbstauflösungsrecht des Landesparlaments benötigt eine Zweidrittelmehrheit, und die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass viele Abgeordnete, die gerade ihr Mandat errungen haben, nicht dazu neigen, es gleich wieder abzugeben, indem sie den Landtag auflösen.“ Es könnte also sein, dass man weder imstande sei, einen Ministerpräsidenten zu wählen noch Neuwahlen zu erzwingen.

Auf Landesebene fehlt eine Instanz wie die des Bundespräsidenten, der abwägend eingreifen, eine Minderheitsregierung ernennen oder den Landtag auflösen könnte.

Sabine Kropp, Leiterin der Arbeitsstelle Politisches System der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität

Dann würde die amtierende Landesregierung interimistisch weiterregieren, ohne demokratisch legitimiert zu sein. „Die Landesregierung hätte keine wirkliche Gestaltungsmacht. So würde sich das politische System in eine Art Selbstblockade hineinmanövrieren, die eine ganze Wahlperiode lang anhalten könnte“, erläutert die Politologin. Der Grund: „Auf Landesebene fehlt eine Instanz wie die des Bundespräsidenten, der abwägend eingreifen, eine Minderheitsregierung ernennen oder den Landtag auflösen könnte.“ Ebenso fehlt eine Regelung, aufgrund derer der Landtag automatisch aufgelöst wird, wenn sich die Parteien nicht einigen können.

Die Regularien ändern?

Außer dem Vorschlag der CDU, durch eine Verfassungsänderung Klarheit zu schaffen, gibt es weitere: Es gibt die Idee, auf einfachgesetzlichem Weg die Regularien und Anforderungen an die Wahl zum Ministerpräsidenten zu ändern. Und einen dritten Vorschlag – den Sabine Kropp sehr kritisch sieht: eine Befassung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs. Die Idee geht auf eine Rede des Verfassungsgerichtshofpräsidenten Klaus von der Weiden zurück.

„Die dort angedachte Klärung der Situation hat bundesweit nicht sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, obwohl sie sehr bemerkenswert ist“, sagt Sabine Kropp. „Denn der Präsident des Verfassungsgerichtshofs hat sich in dieser Rede selbst ins Spiel gebracht: als eine Instanz, die – ich zitiere Klaus von der Weiden – ˏeine vorherige Klärungˊ der strittigen Frage durchführen könnte.“

Von der Weiden sagte sinngemäß: Der Landtag könne doch ein Gesetz beschließen, demzufolge das Thüringer Verfassungsgericht die offenen Fragen zur Wahl des Ministerpräsidenten klären und entscheiden soll, noch vor der Wahl. Auch dieser Vorschlag fällt für Sabine Kropp unter den verzweifelten Versuch, eine politisch unheilvolle Aussicht mit rechtlichen Mitteln zu verhindern: Doch eine wirkliche Lösung, sagt sie, sei in einer Demokratie am besten mit politischen Mitteln zu erreichen. Sonst drohten die kurzfristigen Rettungsversuche der Demokratie, am Ende ebendiese einzuschränken oder sogar zu beschädigen.

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