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Trenchsetter. Die Begegnung mit einem Bademantel hinterlässt Spuren.

© Jana Gerberding

Mode: BERLINER  STIL: Jutebeutel in chic!

Straßenkinder entwerfen High-Fashion - so bauen sie Selbstbewusstsein auf.

Trotzig auf der einen, einladend auf der anderen Seite, so thront das Kreativzentrum Lobe-Block über dem Wedding. Für die einen ein Versuch, Berliner Realitäten zu vereinen, für die anderen der Beginn von Gentrifizierung. Der perfekte Rahmen, um ein High-Fashion-Projekt von sogenannten Straßenkindern vorzustellen.

Etwa hundert gefährdete Jugendliche nehmen jährlich das Angebot der Designerinnen Ayleen Meissner, Eva Sichelstiel und Cornelia Zoller unter dem Dach der Hilfsorganisation Karuna an, an einer professionell gestalteten und präsentierten Avantgarde-Kollektion mitzuarbeiten. Manche sind nur ein paar Wochen dabei, andere schon das dritte Jahr. Für alle geht es darum, sich zu stabilisieren und Selbstbewusstsein aufzubauen, sich selbstbestimmt in festen Strukturen zurechtzufinden, was im besten Fall eine Ausbildung ermöglichen soll. Die anspruchsvolle Kollektion, die erst einmal so wenig mit der Lebenswelt der jungen Menschen zu tun zu haben scheint, soll den Horizont erweitern und den gefährdeten Jugendlichen den Wert ihrer Mitarbeit vermitteln.

Ein Kleid wie eine bittersüße Umarmung

Ein Jahr braucht jede neue Kollektion unter diesen Voraussetzungen. „Unseen“ ist die vierte Edition und kreist um innere Werte und um das Gefühl, unsichtbar zu sein. Umgesetzt wird das in einem Spiel mit nach außen gewendeten Webkanten und Futterstoffen, die an die Oberfläche drängen. Die Straßenkinder und ihre Themen sollen dabei nur über die Kollektion sichtbar werden. „Gerade bei den obdachlosen Jugendlichen ist sonst ganz schnell Voyeurismus im Spiel“, sagt Eva Sichelstein. Insofern ist diese Präsentation die Ausnahme. Die einzelnen Mitglieder des Designkollektivs haben individuell entschieden, ob sie sich an diesem Abend zu erkennen geben. Die Mischung aus Nervosität und Fokussiertheit verrät Edvin (19) aber sofort als Kreativen. „Viele wünschen sich, nicht allein zu sein", erklärt er die Idee seines dunkelblauen Doppelkleides. Die Trägerin wählt eine Seite, die andere Hälfte wird drapiert, wie eine bittersüße Umarmung. Aber heute ist kein Abend des Mitleids oder der Melancholie. Zwei Frauen sind zusammen in Edvins Kleid geschlüpft, wie siamesische Zwillinge in Partylaune. Edvin ist begeistert.

Ein Bademantel als Futter

Viel Witz und Persönlichkeit blitzen auf, wenn auf den Preisschildern kurz die Idee jedes Modells erklärt wird: „Jutebeutel in chic!“ nennt Bolek (25) nonchalant sein Träger-Top. „Wer sagt, was eigentlich nicht zusammenpasst?“ war die Frage, die Lillis (20) tollem Trenchcoat zugrunde lag. Sie hatte mit einem Frotteebademantel als Futter experimentiert. „Schön kuschelig war das“, bedauert sie ein wenig, hat sich aber einer reduzierteren Ausführung als Spiel zwischen glatt und rau ergeben. Nach sanftem Druck schlüpft Lilli in ihren Mantel – angeblich zum ersten Mal, was zeigt, welchen Stellenwert der transformative Prozess des Projektes hat. Erst jetzt entdecken die Jugendlichen das Ergebnis. Lilli betrachtet sich verliebt im Spiegel. „Vielleicht darf ich mir ja mal was wünschen …“, sagt sie. „Vielleicht zu Weihnachten …“

Stücke aus der Kollektion gibt es im Baldon in der Böttgerstr. 16 in Wedding oder auf www.peoplepeoplepeople.de

Ingolf Patz

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