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Der letzte Streich. Bei den Olympischen Spielen 2010 holten die Deutschen in der Teamstaffel ihre bislang letzte Goldmedaille im Eisschnelllaufen. Anni Friesinger-Postma stürzte damals ins Ziel.

©  Friso Gentsch/dpa

Wintersport: Eisschnelllauf - eine Sportart in der Krise

Einst garantierte der Eisschnelllauf Medaillen für Deutschland. Jetzt laufen deutsche Athleten nur noch hinterher.

Die goldenen Zeiten sind vorüber. Auch wenn manche das noch immer nicht wahrhaben wollen. Denn: Eisschnelllaufen hat in Deutschland eine große Tradition. Große Namen, wie Gunda Niemann-Stirnemann, Anni Friesinger und Claudia Pechstein gehören dazu. Aber all das ist Vergangenheit – auch wenn Pechstein mit ihren 46 Jahren immer noch am Start ist. Zuletzt reichte es bei Saisonhöhepunkten nicht mehr für deutsche Medaillen in der einst so medaillenträchtigen Sportart.

Früher, da sammelten die Deutschen auf den Eisbahnen dieser Welt Edelmetall um Edelmetall ein. Die vorerst letzte olympische Goldemaille für das deutsche Team stammt jedoch aus dem Jahr 2010 – und war symptomatisch. In der Teamstaffel stürzte Anni Friesinger-Postma kurz vor dem Ziel und schlitterte irgendwie doch noch als erste über die Linie. Danach, 2014 in Sotschi und 2018 in Pyeongchang, gab es nicht eine einzige Medaille für Deutschland im Eisschnelllaufen mehr.

Nach den Olympischen Spielen in Südkorea schmissen Sportdirektor Robert Bartko und Cheftrainer Jan van Veen im Frühjahr freiwillig hin. Der Verband war fast acht Monate lang führungslos. Und der Prozess der Umstrukturierung fällt nun mitten hinein in die Weltcupsaison der Eisschnellläufer, die an diesem Wochenende in Obihiro begonnen hat, auf der japanischen Insel Hokkaido.

Begründungen für das Scheitern in den vergangenen Jahren sind die alten Verantwortlichen bisher schuldig geblieben. Jetzt soll es ein Neuer richten. Matthias Kulik heißt er. Erst Anfang November hat der neue Sportdirektor seinen Job angetreten. Im Verband ist der Münchner allerdings bereits seit 2008, er kommt aus dem Shorttrack. Kann man das mit Eisschnelllauf vergleichen? „Shorttrack ist anders, auch wenn die Weltcup-Strukturen sich ähneln und beide zum selben Weltverband zählen“, sagt Kulik. „Ich maße mir nicht an, dass alles was im Shorttrack funktioniert hat, so auch eins zu eins im Eisschnelllauf klappt. Oder andersherum.“

Sportdirektor Kulik will den Verband voranbringen

Trotzdem will Kulik, 34, jetzt den Verband voranbringen. Er hat ja keine Wahl. Viel schlimmer kann es kaum werden, weitergehen wie im Moment kann es auch nicht. Zumindest da sind sich alle einig, die in den letzten Monaten viel gestritten haben. Erst einmal geht es darum, Ruhe ins Team zu bringen. In den kommenden Wochen möchte Kulik mit seinen Besten Gespräche führen, um festzustellen, wie sie sich ihren Weg vorstellen. „Das wird kein Wunschkonzert“, sagt er. Es gelte, „die Interessen der Athleten mit den Möglichkeiten des Verbandes abzuwägen.“

Das gilt insbesondere für Claudia Pechstein. Es ist bezeichnend für die Lage im deutschen Eisschnelllaufen, dass sie mit ihren 46 Jahren noch immer nicht von jüngeren aus dem Team verdrängt wurde – und dass sie immer noch das Leitbild ist. Viel wird davon abhängen, wie Kulik mit ihr klarkommt. „Sie führt seit fast zehn Jahren einen Kampf gegen jeden, der sich ihr in den Weg stellt“, sagt er. „Ohne diesen Biss, diesen Kampf kannst du nichts erreichen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten werden wir sie unterstützen, der Verband stand immer an ihrer Seite.“ Doch er weiß auch: „In der Gesamtsicht des Verbandes werden wir sicher auch mal zusammenrasseln. Sie ist älter und erfahrener als ich, aber ich bin für alle verantwortlich.“

Kurzfristig sollen es erst mal die Altbewährten richten. Auch wenn ausgerechnet die drei, die in Pyeongchang als Kandidaten für Topplätze galten, nicht in den Verbandsstrukturen, sondern für sich trainieren. Der Sprinter Nico Ihle schuftet seit diesem Jahr auf der Freiluftbahn in Chemnitz sogar ohne Trainer. Patrick Beckert trainiert in Erfurt mit seinem Bruder. Und Claudia Pechstein geht in Berlin seit Jahren eigene Wege. Das sind Ausnahmen, die der Verband nur zähneknirschend hinnimmt.

Offiziell klingt das so: „Es ist verständlich, dass Sportler, die wie Nico Ihle oder Claudia Pechstein sich am Zenit ihrer Karriere bewegen, an Bewährtem festhalten und sich möglicherweise jetzt nicht nochmal auf neue Strukturen einlassen wollen“, sagt Matthias Kulik. „Für sie hat sich die individuelle Arbeit bewährt und sie wollen daran festhalten. Ebenso Patrick Beckert. Das ist bisher auch immer im gegenseitigen Einvernehmen mit dem Verband erfolgt.“ Aber: „Die Insellösungen sind ein Erbe der Vergangenheit, ein Auslaufmodell. Sie wird es bei jüngeren Sportlern nicht mehr geben.“ Dass der Verband überhaupt im Moment vom Wohlwollen der etablierten Athleten abhängig ist, sagt schon viel über sein Grundproblem aus. Er ist auf den Erfolg angewiesen – allein schon, um gefördert zu werden. Von der öffentlichen Aufmerksamkeit ganz zu schweigen.

Wenigstens ist die Betreuungssituation für dieses Jahr gesichert. Der erfahrene Helge Jasch soll das Team mit den Trainern Daan Rottier, Danny Leger und Erik Bouwman zusammen betreuen. Das verschafft etwas Zeit. Die aktuelle Saison ist ja auch nicht unwichtig. In Inzell steht im Februar die Heim-Weltmeisterschaft an. Man will sich bestmöglich präsentieren, bei den deutschen Meisterschaften vor zwei Wochen an selber Stelle gelang das mit den Zeiten noch nicht so recht.

Die internationale Konkurrenz, allen voran natürlich die Niederländer und Norweger, sind weit enteilt. Mittelfristig stehen deshalb viel grundsätzlichere Fragen an. „Es sind vor allem zwei Themen, die wir vor uns hertreiben“, sagt Kulik. „Einmal 2022. Und, wie wir darüber hinaus den Erfolg sichern können mit denen, die jetzt vielleicht zwölf, 13, oder 14 Jahre alt sind.“ Es geht also um mittelfristigen Erfolg bei den Olympischen Spielen in Peking. Und es geht um den langfristigen Wiederaufbau. Kulik will beides anpacken.

Der Nachwuchs ist nur bedingt konkurrenzfähig

Bisher sind die, die nachkommen, nur bedingt konkurrenzfähig. Es mangelt an gutem Nachwuchs, wie fast in allen olympischen Sportarten. Im Eisschnelllauf hoffen sie deshalb seit zwei, drei Jahren auf Victoria Stirnemann. Die inzwischen 16-Jährige ist die Tochter von Gunda Niemann-Stirnemann und schon deshalb im Fokus. Aber Victoria ist eben auch sehr talentiert. Noch trainiert sie in Erfurt in der Trainingsgruppe ihrer Mutter.

Die Eishalle im Steigerwald trägt ihren Namen. Mehr Druck geht kaum. Aber unter Druck entstehen ja manchmal brillante Dinge. „Victoria ist ein Rohdiamant, wenn Sie so wollen, der noch geschliffen werden will“, sagt Sportdirektor Matthias Kulik. „Dass sie noch in Erfurt bei ihrer Mutter trainiert, entspricht der Trainerstruktur am Stützpunkt. Sobald sie sich für internationale Aufgaben wie etwa Junioren-Weltcups und Weltmeisterschaften qualifiziert, wird aber auch sie in die Verbandsstrukturen integriert werden.“

Matthias Kulik formuliert diese Dinge vorsichtig und ein bisschen umständlich. Auch die Worte Talent, Perspektive oder Hoffnung will er nicht überbetonen. Der Grund ist einfach: „Ich habe bei Anna Seidel die Erfahrung gemacht, dass man im Aufbau von Talenten behutsam sein muss“, erklärt Kulik. Seidel war bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi als 15-Jährige gestartet. Seither ist sie das Gesicht des Shorttrack. Aber eben auch das Einzige. Entsprechend hoch war und ist der Druck auf der noch immer jungen Athletin aus Dresden mit jetzt 20 Jahren. Im Eisschnelllauf will man Ähnliches mit Victoria Stirnemann, die noch dazu mit der Bürde ihres Namens daherkommt, gern vermeiden. Noch ist längst nicht klar, wohin ihr Weg führt. Klar ist bei ihren Resultaten aber jetzt schon: Sie hat das Zeug zu einer Karriere, wenn sie denn will.

Aber es fehlt dem Verband auch an Geld für die Talententwicklung. Es war schon in den vergangenen Jahren schwierig mit dem Budget. Jetzt, mit der Sportreform, wird es noch schwerer. Potas, die Potenzialanalyse der Verbände, war nicht eben positiv für die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG). Was zu erwarten war – angesichts ausgebliebener Medaillen.

151 Fragen galt es für den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und das Innenministerium zu beantworten. Im September gab es dann die Ergebnisse. Eisschnelllauf, die Sportart, die früher Medaillen für Deutschland garantierte, ist nur im Potenzialcluster gelandet. Das heißt, man steht unter Beobachtung. Was das in Summen heißt, weiß der Verband noch nicht. Er nennt sich selbst kurz und knapp „arbeitsfähig“. Mehr nicht. Künftig wird es aber wohl weniger Geld geben. Und so steckt der Verband in einer Negativschleife fest: Weniger Erfolge heißen weniger Geld für Entwicklung, was wiederum zu weniger Erfolgen führt. Und immer so weiter.

Aber Matthias Kulik will es nicht so hoffnungslos sehen. Er nimmt es lieber sportlich. „Wir haben bei den Erfolgen Punkte liegen lassen“, sagt er. „Aber Potas hat auch gezeigt: Potenziale und Strukturen lassen uns nicht durch alle Raster fallen. Wir sehen jetzt die Schwächen und Stärken, und darauf können wir aufbauen.“ Überhaupt, sagt er, sei es völlig okay, dass im Leistungssport diese Maßstäbe gelten: „Wir sind als Spitzensport durch Steuermittel gefördert. Dass man an uns Ansprüche stellt, ist selbstverständlich. Die haben wir auch an uns.“

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