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Maria Tietze, hier bei einem Wettbewerb in der Halle, startete 2019 erstmals bei der Para-WM. Über 200 Meter belegte sie Platz sechs.

© imago images/Beautiful Sports

Kolumne - Mein Weg nach Tokio: Wie ein Auto auf der Hebebühne

Unsere Kolumnistin bereitet sich auf die Paralympics vor. Eigentlich hat sie nun kurz Pause, aber zu tun gibt es trotzdem genug – die Feinjustierung steht an.

In elf Monaten, am 24. August 2021, sollen die Paralympischen Spiele in Tokio beginnen. Mit am Start wird die gebürtige Berlinerin Maria Tietze sein. Die inzwischen 31-Jährige begann einst mit dem Fußball als Sportlerin und ist nach einem Unfall und einer Amputation am linken Unterschenkel nun Paralympionikin (und spielt nebenbei immer noch Fußball). An dieser Stelle wird die Sprinterin und Weitspringerin monatlich und dann vor den Spielen in kürzeren Abständen über ihren Weg nach Tokio erzählen.

Saisonpause. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Sai-son-pau-se. Klingt das nicht wunderschön? Ja, auch Leistungssportler freuen sich über eine Zeit ohne tägliche Trainingseinheiten, in der somit auch automatisch die Taktung des Tages wegfällt.

Gerade in der Leichtathletik leben wir nicht nur wegen der Trainingszeiten nach der Uhr, sondern auch während der Einheit. Es werden Läufe gestoppt, Pausen vorgegeben und auf die Sekunde eingehalten. Die Stoppuhr ist der Gott, den wir neben dem Trainer haben.

Sie piept oder vibriert, wenn wir die Stabilisationsübung wechseln müssen (ähm, dürfen) oder wenn der nächste Tempolauf ansteht. Sie ist gnadenlos. Aber jetzt schlummert sie in der Sporttasche und schläft den Rest des Monats den Schlaf der Gerechten. Akkus für die neue Saison, für Tokio laden.

Wir Athleten machen das auch. Jedoch nicht ganz in Winterschlafmanier. Denn jetzt ist die Zeit all das nachzuholen, was während der Saison und den Reisen zu Wettkämpfen liegen geblieben ist. Ich zum Beispiel klappere Ärzte ab, räume die Wohnung um, plane den Urlaub und ganz wichtig: Ich besuche meinen Techniker mit viel Zeit im Rücken.

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Nach der vergangenen und vor der neuen Saison heißt es die Prothese wieder aufs Feinste einstellen zu lassen. Mit so einer Blade verhält es sich ein bisschen wie mit einem Auto. Was tagtäglich im Einsatz ist, verschleißt. Vor allem, wenn man immer wieder in eine Sandgrube springt. Diese feinen Körner reiben an Schrauben und setzen sich im Gewinde fest. Der muss raus.

Mit Kleber und Schraubzwinge

Die Sohle mit den Spikedornen hat sich auch leicht gelöst und könnte mal wieder neuen Kleber und ein paar Stunden in der Schraubzwinge vertragen. Abgesehen von solch kleinen Arbeiten, die man auch in einer normalen Woche machen lassen kann, gibt es auch größere Baustellen. Der Schaft muss auf den Stumpf abgestimmt werden.

Blade, Dornen, Schaft? Was soll dieses Kauderwelsch? So eine Sportprothese besteht aus mehreren Teilen. Ganz unten ist die Blade, die uns beinamputierten Parasportlern den Fuß ersetzt. Das ist der Bogen, den wohl viele vor Augen haben. An dessen Unterseite klebt eine Spikeplatte mit Dornen, die den sonst fehlenden Sprint- oder Sprungspike ersetzt.

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Am oberen Ende der Blade sitzt der Schaft. Er bildet die Verbindung zwischen Mensch und Technik. Mit dem Stumpf schlüpfen wir in den Schaft, der über unterschiedliche Systeme befestigt werden kann. So haben wir guten Halt und können die Prothese als Ganzes mit Bewegungen kontrollieren. Vergleichbar etwa mit einem Skischuh.

Wie bei einem Skischuh

Dieser sitzt ähnlich fest, erlaubt dem Fuß ähnlich wenig Bewegungsfreiheit und sorgt über die Bindung für eine perfekte Kontrolle des Skis. Wehe aber, der Skischuh sitzt mal nicht richtig, dann endet der Tag auf der Piste mit blauen Flecken am Schienbein oder Blasen am Fuß.

Und genau so verhält es sich mit einem Prothesenschaft. Kleines Manko: Wir können den „Schuh“ nicht einfach in die Ecke stellen und trotzdem weiter gehen. Unsere Beine sind dann zu kurz, laufen geht in dem Fall nur noch mit Krücken. Das ist müßig und schlägt aufs Gemüt.

Deshalb sind wir regelmäßig in die Werkstatt. Dort wird geschliffen und ausgepolstert, zwischendurch immer wieder Probegelaufen. Denn der Orthopädietechniker kann nicht durch den Schaft gucken und ist daher auf das Feedback des Anwenders angewiesen. „Es drückt am Schienbein“ oder „Es reibt an der Schaftkante“ sind keine ungewöhnlichen Aussagen. Oder aber die Neigung der Blade wird verändert, sodass man besser abrollen kann.

Dafür kniet mein Techniker hinter mir und schraubt mit dem Achtkant. Manchmal denke ich so bei mir: „So also fühlt sich ein Auto auf der Hebebühne.“ Wenn nach bis zu drei Stunden Arbeit alles wieder einwandfrei sitzt, steht der Road to Tokyo nichts mehr im Wege.

Maria Tietze

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