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Zehn Tore hat Thomas Müller bei den zwei vergangenen Weltmeisterschaften geschossen. Keiner war besser.

© AFP

Deutschland bei der EM: Was, wenn Müller mal nicht funktioniert?

Die Nationalelf ist abhängig von Thomas Müller. Bei den letzten zwei Weltmeisterschaften hat der Münchner zehn Tore erzielt – nur bei Europameisterschaften trifft er nicht.

Thomas Müller hat sich am Tag nach dem 0:0 gegen Polen ins Tor gestellt und Torhüter gespielt. Von Weitem sah er mit seinen dünnen Beinen in den kurzen Hosen und seinen Armen in den großen blauen Handschuhen aus wie Sepp Maier, die Katze von Anzing. Ein Dutzend Bälle nahm er von seinen Mitspielern in Empfang, oder sagen wir, er versuchte es. Sein Erfolg als Torwart war dabei von wechselhafter Natur. Vermutlich wollte er nur mal eine andere Perspektive auf das Spiel bekommen, was er sonst aus der Sicht eines Stürmers wahrnimmt. Nur hat die zuletzt nicht mehr ganz gestimmt. Die beiden vergangenen deutschen EM-Spiele sind an ihm irgendwie vorbeigeflogen.

Was von der Menge erwartet wird

Thomas Müller hat bisher nicht nur kein Tor erzielt, er hat in beiden Spielen nicht mal einen Torabschluss hinbekommen. Das ist so ungewöhnlich, wie einen sprachlosen Müller anzutreffen. Und weil dem so ist, sagt er: „Der Einsatz hat gestimmt, aber das ist nicht das, was von der Menge erwartet wird.“

Die Menge, also die deutschen Fußballfans, erwarten vom Weltmeister eine grandiose EM und von einem wie Müller natürlich Tore – ob mit dem Fuß, Kopf oder Hinterteil. Denn daran hat er sie ja auch gewöhnt. 32 Tore hat er in 73 Länderspielen seit seinem Debüt 2010 erzielt – so viele wie kein anderer in dieser Zeit. Und, was noch bemerkenswerter ist: Wenn Müller traf, hat Deutschland noch nie verloren. Und jetzt das: Ladehemmung bei Müller! Das beschäftigt nicht nur die halbe Nation, so etwas treibt auch Müller selbst um.

Keine Tormöglichkeit

Auch wenn er einer ist, der auch mal ein, zwei Spiele wegstecken kann, in denen es nicht so läuft, wie Bundestrainer Joachim Löw sagt, so nagt es an Müller, es lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. „Mich persönlich stört gar nicht, dass ich noch kein Tor geschossen habe bei einer Euro, sondern dass ich in den letzten zwei Spielen eigentlich keine wirkliche Tormöglichkeit hatte“, sagt der 26-Jährige.

Und das ist nun mal wirklich keine gute Nachricht. Die Abhängigkeit von seinen Toren ist frappierend. Seit Miroslav Klose nach dem WM-Finale seinen Rücktritt bekannt gab, hat Müller in 19 Länderspielen zehn Tore erzielt, davon neun in neun von zehn EM-Qualifikationsspielen, die er bestritt. Doch was, wenn Müller mal nicht funktioniert?

Komplizierteste Verrenkungen. Thomas Müller ist etwas unrund in dieses EM-Turnier gestartet.

© dpa/Suki

Wohl kein Schützenfest gegen Nordirland

„Warum es bei ihm nicht läuft, weiß ich nicht“, hat Löw eben noch erzählt. Die Befürchtung aber, dass dieser Umstand von Dauer sein könnte, hat der Bundestrainer energisch zerstreut. Thomas Müller sei einer, der jederzeit zuschlagen könne, egal wie er oder seine Mannschaft spielt. „Wenn ich die nächste Möglichkeit habe, muss ich halt da sein. Ich hoffe, dass ich im Laufe des Turnieres eine bekommen werde“, sagt Müller.

Die nächste dazu bietet sich am Dienstag, wenn die deutsche Elf in Paris im dritten Gruppenspiel auf Nordirland trifft. Das könnte so ziemlich das Zäheste sein, was in Europa möglich ist. Müller sagt: „Sie werden mit sehr vielen Spielern ihren eigenen Strafraum verteidigen. Ich erwarte nicht, dass wir ein Schützenfest abfeuern, obwohl ich’s gern hätte.“

Der Bomber der Neuzeit

Eigentlich ist Thomas Müller fußballgewordener Wahnsinn. Zehn WM-Tore hat dieser Kerl bei den beiden vergangenen Weltmeisterschaften geschossen, je fünf 2010 und 2014, zusammen war keiner besser. Nur hat er in bisher insgesamt sieben EM-Spielen kein einziges Tor erzielt.

Natürlich darf Joachim Löw einen Thomas Müller nicht draußen lassen, niemals. Nie! Ob nun die Nordiren kommen, oder sonst wer. Müller ist Müller, der Bomber der Neuzeit. Oder, wie es Louis van Gaal, sein einstiger Förderer beim FC Bayern einmal sagte: „Müller spielt immer.“

Thomas Müller ist ein Unikum im gestylten Fußballkosmos der Jetztzeit. Er hat keine Tattoos und gibt keine Phrasen von sich. Er ist lebensnah, schlagfertig und unerschrocken. Und so spielt er schließlich auch. Er mag einiges von dem, was Stürmer wie Messi oder Cristiano Ronaldo oder Neymar können, nicht können. Aber niemand kann auch nur annähernd das, was Müller kann. Tore aus dem Nichts erzielen, Tore, die es gar nicht geben würde ohne Müller. Wenn ihm ein Ball auf den Kopf fällt, ihm siebzehn Beine im Weg zum Tor stehen, oder er sich im Stile eines Hühnerdiebs auf den Weg mit dem Ball ins Tor macht. Er hat einfach ein untrügerisches Gespür dafür, wo der Ball hinkommt.

Eine Frage der Perspektive

Um den Wert von Thomas Müller zu bestimmen, reicht ein Blick in die Leistungsdaten der abgelaufenen Saison: 20 Bundesligatore, dazu acht in der Champions League und ein paar im DFB-Pokal. Als Manchester United im Vorjahr 100 Millionen Euro für Müller bot, winkte Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge lachend ab: „Wir wären ja von allen guten Geistern verlassen, wenn wir Müller abgeben würden.“ Der unbeugsame Oberbayer (Pähl) ist das, was man heutzutage als Mentalitätsmonster bezeichnet; immer auf Glut, immer lodernd, immer mitreißend. Sein Geheimnis sind Wille und Wege, Laufwege. Sie sind oft unergründlich. Bisweilen galoppiert er wie ein angetrunkenes Rennpferd querfeldein, was nicht nur den Gegner durcheinanderbringt. Doch oft genug bringen sie ihn dahin, wo die Entscheidung lauert.

„Ich muss mich nicht um 180 Grad drehen, es ist nicht alles falsch, was ich mache“, sagt Müller vor dem Spiel gegen die Nordiren. Es sei ja keine Frage, dass Deutschland in diesem Duell der Favorit sei. Und wer ihn kennt, der wisse ja, „ich würd’ auch einen zähen Sieg nehmen und das Geschreibe ertragen und mit ins Achtelfinale nehmen“. Am Ende ist eben vieles eine Frage der Perspektive.

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