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Der Goldene Herbst animiert viele Jogger zu ausgiebigen Läufen.

© dpa

Kolumne „Losgelaufen“: Warum uns der Optimierungswahn nicht guttut

Unsere Kolumnistin will sich nicht mehr dem Leistungsgedanken im Sport aussetzen. Ihr Anspruchslevel hat sie daher nach unten korrigiert.

Jeannette Hagen ist freie Autorin in Berlin, Sportlehrerin und Läuferin. Hier schreibt sie im Wechsel mit Radsporttrainer Michael Wiedersich.

Wenn Sie sich nicht nur draußen, sondern nebenher auch in den sozialen Netzwerken bewegen, werden Sie sicher – gewollt oder ungefragt – mit Optimierungsofferten bombardiert. Sei es durch den Freund auf Instagram, der täglich seine Laufzeiten einstellt und beiläufig erwähnt, dass sich sein PACE, also seine Durchschnittsgeschwindigkeit, schon wieder verbessert hat. Oder durch die professionelle Läufer-App, die Ihnen jeden Tag mitteilt, was Sie noch besser machen können.

Wie Sie mit der richtigen Ernährung noch ein paar Minuten rausholen, mit dem passenden Mindset Ihren inneren Schweinehund einmal mehr überrumpeln oder einfach insgesamt immer besser werden. Offenbar sind wir alle empfänglich für die Botschaft, nicht gut genug zu sein, sonst würde dieser Markt nicht derart blühen.

Für viele Läufer und Läuferinnen reicht es nicht mehr, einfach nur zu laufen – nein, es muss schon der Ultra-Marathon sein oder eine Bestzeit, die sich am Hochleistungsniveau orientiert, obwohl man so ganz nebenbei noch arbeitet und eine Familie versorgt. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr sich das Leistungsdenken im Freizeitbereich verankert hat und wie sehr viele Menschen darunter leiden, wenn sie Anforderungen nicht genügen, die eigentlich niemand wirklich an sie gestellt hat.

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Ich würde es nicht schreiben, wenn es mir nicht vertraut wäre. Mir fällt es zum Beispiel nicht leicht zu akzeptieren, dass ich älter werde. Ich bin die, die gern ewig Dreißig bleiben würde und vergesse bei allem, was ich mir vornehme ab und zu, dass sich die Jahresuhr unterdessen schon etliche Runden weitergedreht hat. Die Quittung kommt dann meist in Form von kleinen oder größeren mentalen Zusammenbrüchen, spätestens dann, wenn ich realisiere, dass mein Tag 48 Stunden haben müsste, um all das zu leisten, was auf der Agenda steht. Wenn ich mich dann noch mit denen vergleiche, die sich so präsentieren, als würden sie alles schaffen, dann sinkt der Selbstwert mal kurzzeitig auf Nullniveau.

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Dabei sollte Sport doch eigentlich das Ausgleichselement sein, etwas, das uns auf andere Gedanken kommen lässt, das den Konkurrenzgedanken, der viele im Alltag ohnehin belastet, außen vor lässt. Es scheint aber, als ob der Wunsch, etwas Außergewöhnliches zu erleben oder zu leisten und damit auch etwas Besonderes darzustellen, das inzwischen verdrängt. Anders sind die explodierenden Zahlen der Extrem-Events und der Anmeldungen kaum zu erklären. Offensichtlich brauchen wir in einer Welt, in der wir uns unserer Bedeutung immer weniger bewusst sind und klassische Zugehörigkeiten schwinden, neue Ankerpunkte und wahrscheinlich ist das auch nur menschlich, sich darin buchstäblich zu verrennen.

Ich für meinen Teil habe, bedingt sicher auch durch die lange Verletzungspause und durch Corona, mein Anspruchslevel wieder deutlich nach unten korrigiert. Laufen ja, auch gerne mal länger und auch gerne mal mit einem Lauf-Event als Highlight. Aber nicht mehr in Serie. Und auch nicht mehr unter dem Druck, eine bestimmte Zeit laufen zu müssen. Jetzt muss ich nur noch lernen, all das auszublenden, was mich dann doch wieder verleiten würde. Das geht wohl am besten, wenn ich mich draußen und nicht in sozialen Netzwerken bewege. Vielleicht ja auch zwischendrin einfach mal nur wandernd.

Jeannette Hagen

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