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Jürgen Dusel, 56, ist seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

© Thilo Rückeis

Jürgen Dusel im Interview: „Viele Klischees über Menschen mit Behinderung nerven mich total“

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen über Barrieren, Inklusion und nervende Klischees.

Herr Dusel, Sie sind Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Sie sind stark sehbehindert. Inwiefern können Sie auch die Interessen von Menschen vertreten, die keine Sehbehinderung, sondern zum Beispiel eine Gehbehinderung haben?

Oftmals sind die Themen, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen – egal ob Seh-, Geh- oder andere Behinderung – sehr ähnlich. Es geht zum Beispiel um Partizipation und Barrierefreiheit. Natürlich ist es so, dass ich durch meine Sehbehinderung aus eigenem Erleben weiß, welche Unterstützung ich brauche, anders als bei anderen Behinderungen. Ich arbeite aber mit Menschen mit anderen Behinderungen zusammen. Es gibt zum Beispiel den Inklusionsbeirat und die verschiedenen Verbände von Menschen mit Behinderungen. Und diese Menschen beraten mich in meiner Tätigkeit. Meiner Meinung nach ist es als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen wichtig, selbst mit Behinderung zu leben. Zusätzlich ist es aber auch wichtig, sich die Expertise von vielen anderen einzuholen. Nur so kann ich die Menschen gut vertreten.

Gab es ein Erlebnis in Ihrem Leben, nachdem Sie dachten: Ich möchte mich für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzen –oder war Ihnen das schon früh aufgrund der eigenen Sehbehinderung klar?

Ich habe nach dem Abitur überlegt, was ich machen soll: Eine starke Überlegung war es, Musik zu studieren, denn ich spiele leidenschaftlich gern Klavier. Letztendlich habe ich mich aber für Jura entschieden. Im Studium habe ich mich besonders für Verfassungsrecht, Menschenrechte und Sozialrecht interessiert. Dieses Eintreten für Menschenrechte und für Demokratie war sehr nah am Einsatz für Menschen mit Behinderungen dran, das mich aufgrund meiner eigenen Behinderung sensibilisiert hat. Mein jetziger Beruf war also nicht von Anfang an geplant, sondern hat sich aufgrund meiner Interessensgebiete und Erfahrungen ergeben.

Werden Sie irgendwann müde, sich für das Thema einzusetzen und würden Ihre Zeit gern mal etwas anderem widmen?

Ich werde nicht müde, mich für Menschen mit Behinderungen einzusetzen: Für mich ist es eine große Ehre und Freude, diesen Job machen zu dürfen. Die Musik ist zwar noch immer sehr wichtig für mich, ich sehe sie aber als Ausgleich und nicht als “entweder, oder”. Ich habe ein absolutes Gehör, was meine Leidenschaft für die Musik natürlich maßgeblich beeinflusst hat und weshalb auch sie ein stetiger Teil meines Lebens ist.

Ein Mensch mit Sehbehinderung, der ein absolutes Gehör hat, also hochmusikalisch ist: Das ist ein positives Klischee, das viele im Kopf haben –und das zumindest auf Sie zutrifft. Gibt es ein Klischee über Menschen mit Behinderung, die Sie aber total nervt?

Ja, viele! Zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen nicht leistungsfähig seien und ständig krank. Gerade im Arbeitsleben sind Menschen mit Behinderungen vielen Vorurteilen ausgesetzt, die mich sehr ärgern.

Sie sprechen immer wieder von Barrierefreiheit, haben aber im Vorgespräch gesagt, dass es so etwas wie Barrierefreiheit gar nicht gibt: Was stimmt denn nun?

Barrierefreiheit ist ein absoluter Begriff der bedeutet, dass wirklich keine Barriere mehr vorhanden ist. Ich glaube, diesem Ziel kann man sich im besten Fall annähern. Das hundertprozentig zu erreichen, ist sehr schwierig, da die Gruppe von Menschen mit Behinderungen sehr heterogen ist und unterschiedliche Bedürfnisse an Barrierefreiheit hat. Ein Beispiel: Ein abgesenkter Bordstein ist für einen Rollstuhlfahrer eine abgebaute Barriere – für eine Person, die mit Blindenstock unterwegs ist, ist er hingegen eine Barriere für die Orientierung im Straßenverkehr, weil er dann nicht mehr tastbar ist. Das zeigt: Barrieren abzubauen geht nicht nebenbei, dafür ist viel Expertise gefragt. Trotzdem muss es immer unser Ziel bleiben.

Ihre Aufgabe ist es, darauf hinzuwirken, dass der Bund seine Verantwortung wahrnimmt, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen –in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sind Sie der Meinung, dass ein Amtsinhaber allein dieser gewaltigen Aufgabe nachkommen kann?

Ich habe zum Glück tolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit mir an dieser enormen Aufgabe arbeiten. Dafür braucht es ausreichend Personal. Die Themen werden ja immer komplexer werden, zum Beispiel im Hinblick auf Barrierefreiheit in der Digitalisierung. Und wir werden beteiligt an Vorhaben der gesamten Bunderegierung, nicht nur aus dem Bereich Arbeit und Soziales.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit 2018 haben Sie gesagt, dass Ihnen vor allem die Abschaffung der pauschalen Wahlrechtsausschlüsse am Herzen liegen. Das umfasste in etwa Menschen 85 000 Menschen, die für die Besorgung aller Angelegenheiten einen Betreuer oder eine Betreuerin zur Seite gestellt bekommen und zum anderen z.B. schuldunfähige Straftäterinnen und Straftäter in psychiatrischen Krankenhäusern. Seit Mitte 2019 dürfen diese Menschen tatsächlich wählen: Welche Rolle haben Sie dabei gespielt?

An diesem Ergebnis haben viele Institutionen und Personen mitgewirkt. Meine Rolle war es, zum Beispiel im Arbeits- und Sozialausschuss dafür zu werben, im Bundestag und bei Gesprächen mit Abgeordneten. Sehr geholfen hat aber vor allem eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, laut der pauschale Wahlrechtsausschlüsse verfassungswidrig sind. Das zentrale demokratische Gut des Wählens auf bisher ausgeschlossene Menschen auszuweiten betrachte ich als großen Erfolg. Und ist letztlich auch die Bestätigung des Mottos meiner Amtszeit: Demokratie braucht Inklusion.

Was war Ihre größte Niederlage in Ihrer bisherigen Amtszeit?

Nicht als Niederlage, aber als Enttäuschung würde ich es bezeichnen, dass Unternehmen, die entgegen der gesetzlichen Regelungen keinen einzigen Menschen mit Behinderung beschäftigen, keine zusätzliche Ausgleichsabgabe zahlen müssen. Das sind 25 Prozent der beschäftigungspflichtigen Unternehmen in Deutschland, die keinen einzigen Menschen mit Behinderung beschäftigen. Für diese Unternehmen haben ich und viele andere seit langem die Verdoppelung der Ausgleichsabgabe gefordert. Dies war vom Arbeitsminister auch bereits angekündigt, war aber in der Koalition offensichtlich nicht durchsetzbar. Das finde ich enttäuschend.

Sie sind unter anderem bei Gesetzesvorhaben der Bundesministerien beteiligt, soweit diese die Fragen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen behandeln –wie genau werden Sie mit eingebunden?

Zum Beispiel über die Ressortabstimmung, wie im Falle der Verordnungen über die Impfpriorisierung, als aktuelles Beispiel. Bevor Entscheidungen getroffen werden, die die Belange von Menschen mit Behinderung betreffen, müssen wir einbezogen werden. Das klappt in manchen Ministerien besser als in anderen. Das Gesundheitsministerium zum Beispiel kooperiert heute viel stärker mit uns, als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Mir ist immer wichtig zu betonen: Die Belange von Menschen mit Behinderungen sind in allen Lebensbereichen, also auch in allen Ressorts, betroffen.

Sie kritisieren immer wieder, dass Menschen mit Behinderung nicht die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten, weil Arbeitgeber:innen ihnen zu Unrecht nicht die gleichen Fähigkeiten zutrauen, wie Menschen ohne Behinderung. Wenn Sie diese umfassende Chancengleichheit fordern: Glauben Sie, Deutschland könnte eine blinde Bundeskanzlerin haben?

Ja selbstverständlich. Wichtig ist ja vor allen Dingen, dass die Rahmenbedingungen stimmen, und nicht die Behinderung an sich eine Rolle spielt.Es gibt viele Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, die sehr kompetent sind und in Spitzenpositionen arbeiten. Das beste Beispiel dafür ist Wolfgang Schäuble, der im Rollstuhl sitzt. Ich würde es sehr begrüßen, wenn mehr Menschen mit Behinderung in politischen Spitzenämtern wären.

Nur rund drei Prozent der Menschen mit Behinderungen werden mit ihrer Behinderung geboren. Das heißt, 97 Prozent erwerben sie viel später, nachdem sie zur Schule gegangen sind. Welchen Einfluss hat das auf die unterschiedlichen Bedürfnisse dieser zwei Personengruppen?

Der Unterschied wird vor allem im Bereich Bildung sichtbar. In der öffentlichen Debatte wird zum Beispiel ein starker Fokus auf das Thema Inklusion in der Schule gelegt. Das ist auch gut so. Allerdings ist für die allermeisten Menschen mit Behinderungen das Thema gar nicht relevant, weil sie ihre Behinderung erst nach der Schulzeit erwerben. Für diese Menschen spielen andere Themen eine Rolle, die in der Öffentlichkeit aber kaum diskutiert werden. Zum Beispiel barrierefreier und bezahlbarer Wohnraum oder der barrierefreie Zugang zu Kinos, Restaurants, zu ärztlichen Praxen oder auch zu Sportstätten. Sichtbarkeit schaffen hier auch die Paralympics.

Wie verfolgen Sie die Paralympics, wenn Sie nicht im Fernsehen zuschauen können?

Ich hätte sie natürlich am allerliebsten live in Tokio verfolgt. Da das aufgrund der Pandemie leider nicht möglich ist, werde ich auch auf die Medien zurückgreifen müssen. In guten Stadien und bei großen Veranstaltungen gibt es die Möglichkeit, dass Menschen mit Sehbehinderungen eine Audiodeskription bekommen. Das hört sich an, wie wenn im Radio ein Fußballspiel übertragen und kommentiert wird. Im Fernsehen gibt es teilweise auch Audiodeskription. Und am liebsten verfolge ich die Spiele auch nicht alleine, es ist also möglich, dass meine Begleitung mir erzählt, was gerade passiert. Ziel ist es aber natürlich, dass Menschen mit Behinderungen ohne fremde Hilfe alles mitbekommen. Hier sehe ich auch die Medien in der Pflicht, für mehr Barrierefreiheit zu sorgen.

Dieses Interview ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.

Katharina Kunert

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