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Spitzenmannschaft: Hertha gewinnt Gefühle

Berlins Bundesligist punktet kontrolliert und feiert heiter und entspannt – genau das macht eine Spitzenmannschaft aus. Nun träumt auch das Team von der Meisterschaft.

Als der Abend in den Morgen überging, schnappte sich Pal Dardai die Lebensgefährtin von Andrej Woronin. Herthas ungarischer Mittelfeldspieler wollte einen kleinen Deal aushandeln mit der Freundin des ukrainischen Stürmerstars. Es ging zwar nicht um dessen Verbleib in Berlin über den Sommer hinaus, gleichwohl aber wollte Dardai zumindest ein gewisses Accessoire des Torjägers für die Stadt gesichert wissen. „Ich sagte zu ihr: Wenn wir hier was ganz Großes hinkriegen, dann kommt Andrejs Zopf ins Hertha-Museum.“

Zugetragen hat sich die kleine Verhandlungsrunde in einer tiefergelegten Diskothek im Hinterland des Brandenburger Tores. Herthas Spieler hatten nach dem 1:0-Sieg über Leverkusen, dem zehnten Heimsieg in Folge, ihre Frauen dabei und feierten. Mittendrin Andrej Woronin, der im siebten Rückrundenspiel sein achtes Tor erzielt hatte. Der Zopf Woronins ist momentan zu einem Sinnbild für den neuen Stil der Berliner geworden. Der Zopf ist drum und dran, Dieter Hoeneß als das jahrelange Image Herthas abzulösen. Allerdings bedürfe es noch einiger Überzeugungsarbeit, das Haarteil fürs Museum zu gewinnen, wie Pal Dardai erzählt. Denn: „Sie hat ,nein’ gesagt – vorerst.“ Den vorsichtigen Optimismus zerschlägt Woronin andernstags. Auch er trägt das Glück über die Tabellenführung, aber auch die Zeichen einer heiteren Nacht in seinem Gesicht. „Sie wird das nie erlauben“, scherzt Woronin: „Und wenn, dann nur, wenn Pal auf ewig mit dem Zopf in der Hand im Museum stehen bleibt.“

Ausgelassenheit herrschte in der Nacht nach dem Spiel. Besonnenheit am Tag nach dieser Nacht. Diese kleine Episode lässt tief blicken hinein ins Innenleben der Mannschaft. Was zum Vorschein kommt, ist nicht das Schlechteste. „Wir haben eine überragende Truppe mit einer super Atmosphäre“, sagt Josip Simunic. „Wenn man einen Lauf hat, ist man fast unschlagbar“..Der kroatische Innenverteidiger ist beinahe solange wie Dardai bei Hertha. „Es ist einfach schön, es macht sehr viel Spaß im Moment“, sagt Dardai, der heute 33 Jahre alt wird und nun schon seit zwölf Jahren in Berlin spielt. „Es war ein langer Weg bis hierhin“, sagt er. „Bei uns ist alles gesund. Und genau das bringt uns weiter. Jeder spürt, dass er ein Teil von etwas Großem werden kann.“

Pal Dardai hat noch in der Zweiten Liga für Hertha gekickt, er hat den rasanten Aufstieg in die Champions League mitgemacht, aber auch die trüben Jahre zweier verhinderter Abstiege. „Jetzt kommt Stuttgart dran, dann ist Länderspielpause und dann noch mal die letzte Luft.“ 49 Punkte nach 24 Spielen können sich schon sehr sehen lassen. Hertha häuft durchschnittlich zwei Punkte pro Spiel an. Das ist meisterschaftsverdächtig. Die Mannschaft spürt das, und freut sich innerlich. Nach außen transportiert sie ihre Gefühle kontrolliert. Woche für Woche gewinnt das Große an Gestalt. „Ich würde lügen, wenn ich nicht sagen würde, dass ich Meister werden möchte - und ich glaube, so leicht wie dieses Jahr wird es nie wieder“, sagt Kapitän Arne Friedrich.

Die Spieler tun gut daran, nicht durchzudrehen, wie es sich mancher im Verein für die Begeisterung in der Stadt herbeiwünscht. Vielleicht hilft den Spielern ihre Einstellung auf dem Platz. Hertha spielt nicht überheblich oder pomadig, wie es so manchen Spitzenreiter unterlaufen ist, sondern wie eine Spitzenmannschaft. „Diese Mannschaft ist bereit, defensiv zu arbeiten. Sie hat die Ruhe und Reife dazu. Und sie hat Erfolgserlebnisse damit. So kann man Meister werden“, lobt der Leverkusener Trainer Bruno Labbadia. Es ist die Ruhe, selbst unter Druck klar und sauber zu spielen und vorn auf die Chancen zu warten. „Das war nicht spektakulär, aber intelligent“, sagt Dieter Hoeneß. Die Mannschaft habe ruhig verteidigt, habe auf ihre Chance gewartet, sie gemacht und den Vorsprung „cool runter gespielt“.

Das Coole kann trotzdem sympathisch sein. Hertha siegt auf und gewinnt außerhalb des Platzes. Da sind die hohe Organisation und Disziplin im Spiel und die fast kindliche Freude, die Herthas Spieler neuerdings nach den Siegen zeigen. Zum zweiten Mal hatten sie einen Kreis gebildet. Vor einer Woche in Cottbus war Manager Dieter Hoeneß in die Mitte gebeten worden, um ein Tänzchen zu vollführen. Diesmal hatte es Trainer Lucien Favre erwischt, dessen wahre Qualitäten woanders liegen. Egal, es ist ein hübsches Ritual geworden. „Ich hoffe, wir sehen noch einige andere Tänzer, aber dafür müssen wir noch hart arbeiten“, sagt Simunic. Auch er hat seinen Auftritt in der Fankurve ritualisiert. Nach dem Sieg über die Bayern vor genau einem Monat hatte sich der Kroate ein Megafon genommen und dem siegestrunkenen Anhang acht Siege aus den zwölf ausstehenden Spielen versprochen. Nun rief er aus: „Jetzt sind es noch sechs Siege aus zehn Spielen.“ 30 000 Fans hatten noch zwanzig Minuten nach dem Abpfiff tanzend auf ihren Platzen verharrt. Zu Spielbeginn war noch eine gewisse Zurückhaltung beim Publikum auszumachen gewesen. Einige Tausend waren nicht pünktlich zum Anpfiff im Stadion, sondern hatten offenbar wichtigere Dinge zu erledigen. „Ja, das ist wie mit meinen drei Kindern“, sagt Dardai, „erst wollen sie nicht mitkommen und dann aber nicht mehr raus.“ Jedenfalls hatte hinterher ein Fan aus der Kurve Josip Simunic eine Meisterschalen-Attrappe in die Hand gedrückt. Der Kroate schwenkte sie verlegen. Die richtige Schale werde sich anders anfühlen. „Hoffentlich kriege ich die Chance dazu“, sagt er und schiebt seine dunkle Mütze zurecht: „Ich glaube daran.“ Man solle das jetzt genießen, aber dabei nicht vergessen, konzentriert weiter zu arbeiten. Alles sei sehr eng. Und dann sagt Simunic den vielleicht wichtigsten Satz: „Viele verstehen Fußball ein bisschen mehr, seit er hier ist.“ Gemeint ist Lucien Favre, der Trainer, der nie abhebt.

Niemand hebe hier ab, sagt Lucien Favre und hebt dabei die Schultern. Ja, es sei eine kleine Euphorie in der Stadt, schön. Der Schweizer lebt sie vor, die schüchterne Bescheidenheit, eine Qualität, die Hertha viele Jahre abging. Favre bündelt sie in einem Satz: „Ich bin zufrieden für die Leute, die zufrieden sind.“

Lucien Favre wirkt, als sei ihm der Erfolg fast ein wenig peinlich. Drei Wochen wird Hertha mindestens Tabellenführer bleiben. Favre nickt mit einem klitzekleinen Lächeln im Gesicht. Dann sagt er: „Ja, wir schauen auf die Tabelle mit viel Spaß, aber es ist nur die Tabelle. Der Weg ist noch weit.“ Und weiter geht’s. 

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