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Reno Tiede (rechts), 31, ist Kapitän der deutschen Goalball-Nationalmannschaft.

© Reuters

Goalballer Reno Tiede über das Paralympics-Aus: „Seit 2012 haben wir dafür trainiert – jetzt ist es einfach vorbei“

Kapitän Reno Tiede über das frühe Ausscheiden der Goalballer in Tokio, den Erwartungsdruck und die Suche nach einem neuen Trainer.

Herr Tiede, die deutschen Goalballer sind am Montag bereits nach der Vorrunde ausgeschieden. Wie verarbeitet man so ein überraschend abruptes Ende bei den Paralympics?

Es fühlt sich leer an. Ich kann es gar nicht so richtig beschreiben, weil einfach diese Leere, diese Sprachlosigkeit gerade überwiegt. Unvollkommen kann man es von mir aus nennen. Es war klar, dass es in dem Spiel um alles geht. Und uns war auch klar, dass es so eine Konstellation durchaus geben kann, in der man mit sechs Punkten ausscheidet. Aber das es uns trifft, ist natürlich schon krass. Wir haben gegen Belgien ein hervorragendes Spiel in der Defensive gespielt. Gegen die Türkei hätten wir höher gewinnen können und gegen die Ukraine hätte uns nicht so eine hohe Niederlage passieren dürfen. Und jetzt gegen China sind einfach zu viele Tore gefallen. Außerdem haben wir mit Abstand die wenigsten Tore geworfen in diesem Turnier – und dann sind zumindest objektiv die Gründe, woran es gelegen hat, schnell gefunden.

Die Erwartungen an Ihr Team waren hoch.

Wir haben ein extrem krassen Rückhalt aus Deutschland gespürt. Dieses mediale Interesse, Freunde, Familie und Bekannte, die alle mitgefiebert haben, so etwas habe ich noch nicht erlebt und dadurch tut es einfach noch einmal mehr weh. Vor ein paar Jahren war das noch anders, da haben die Paralympics in der Öffentlichkeit praktisch nicht stattgefunden. Da wäre man hier hingefahren, hätte verloren und wäre dann wieder nach Hause gefahren und keiner außer engen Familienmitgliedern hätte es gewusst. Jetzt mit Fans, von denen wir teilweise Sprachnachrichten bekommen haben, in denen die Leute selbst geweint haben – das tut echt weh. Wir trainieren nicht acht oder neun Mal die Woche für Geld. Wir sind alle Amateure. Wir bekommen zwar eine Sportförderung, aber bei uns hat niemand einen fetten Sponsorenvertrag oder ist bei einem Verein unter Vertrag. Wir machen das aus Leidenschaft. Ich habe mich mit unseren Fans und Sympathisanten extrem verbunden und deshalb auch verantwortlich gefühlt.

Wie gehen Sie im Team mit der Situation um?

Wir sind jetzt nicht in der Kabine zerbrochen oder so. Aber jeder hat halt seine eigene Art und Weise mit der Situation umzugehen. Der eine holt sich ein Teammitglied dazu und sie verarbeiten das gemeinsam, der andere macht das halt lieber für sich alleine aus. Ich werde gleich noch mit meiner Frau und meinem Kind kommunizieren, die von zu Hause aus mitgelitten haben und mich über Jahre auf diesem Weg hier hin unterstützt haben. Ohne sie wäre die ganze Vorbereitung so nicht möglich gewesen.

Haben Sie sich als Teamkapitän etwas überlegt, was Sie den Jungs noch sagen wollen, um sie ein bisschen aufzubauen?

Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht. Es wird sicherlich noch eine Zusammenkunft geben, auch weil unser Cheftrainer nach diesem Turnier seine Karriere beenden wird. Ansonsten glaube ich, selbst wenn ich jetzt die Mannschaft zusammenhole und noch ein paar Sachen sage – das wäre dann nur, um es gemacht zu haben. Diese Niederlage, die wird brauchen. Und die wird länger brauchen als eine Woche und sicherlich auch länger als vier Wochen. Diese Zeit muss jedem zugestanden werden. Selbst wenn wir da noch irgendwelche Worte fallen lassen, ich glaube, die ganzen Emotionen sind zu frisch, um das überhaupt aufsaugen und mitnehmen zu können. Das wären nur leere Worthülsen, die nichts bringen. Ich bin kein Freund davon, irgendwelche Worte zu verlieren, wenn ich weiß, die haben nicht die entsprechende Wirkung.

Herr Tiede, Sie haben angesprochen, dass Sie sehr viel Rückhalt aus Deutschland bekommen haben.  Das Spiel gegen die Türkei war das erste Goalball-Spiel, das live im deutschen Fernsehen übertragen wurde. Haben Sie sich in der Mannschaft zu viel Druck gemacht?

Das glaube ich gar nicht unbedingt. Wir sind 2019 bei unserer Heim-EM in Rostock auch angetreten mit dem Ziel, Gold zu gewinnen. Und dort hatten wir ja sozusagen den Druck des heimischen Publikums, was ja auch beflügeln kann. Mich beflügeln Zuschauer zum Beispiel grundsätzlich, also egal, ob für oder gegen mich. Auf der anderen Seite sind wir im Goalball in einer Situation, wo wir abseits der Nationalmannschaft keine große Fankultur haben. Da entsteht dann schon eine Drucksituation, wenn man sich in der eigenen Stadt hinstellt vor 1000 Zuschauern und sagt, man möchte Gold gewinnen. Das kann auch lähmen.

War das in Tokio der Fall?

Ich würde nicht sagen, dass wir uns jetzt zu großen Druck gemacht haben. Mal ganz ehrlich, man trainiert ja nicht jahrelang für das Ziel „Viertelfinale“. Das bedeutet ja auch, dass es dort dann zu Ende ist. In Rio wollten wir ins Viertelfinale, aber ich war nie ein Freund von dieser Zielsetzung. Und in Rio haben wir unser Ziel erreicht und hätten sogar fast die USA geschlagen. Am Ende haben wir verloren, auch weil wir noch unerfahren waren und weil es leider ähnliche Fehlerquellen wie heute gegeben hat. Aber auch 2016 war das Halbfinale schon realistisch. Wenn wir in Tokio eine Medaille geholt hätten, dann wäre ich am Ende auch mit jeder andere Farbe glücklich gewesen.

War Ihnen von vornherein klar, dass China ein schwerer Gegner sein wird?

Uns war bewusst, dass China als Asienmeister extrem stark ist. 2008 waren sie Paralympics-Sieger. Das ist zwar schon etwas her, aber China ist eine sehr starke Nation. In der ersten Halbzeit haben beide Mannschaften, also China und wir, sehr konzentriert gespielt. Für die Chinesen ging es ja auch um alles und sie haben es halt geschafft, in der zweiten Halbzeit einen Gang hochzuschalten, während wir in einem Gang geblieben sind. So konnten die Chinesen Tore machen. Nach dem ersten Tor folgte gleich das nächste Tor und dann wird es natürlich schwer. Die Chinesen haben das einfach gut gemacht und dann auch verdient gewonnen.

Was hätte anders laufen müssen?

Ich glaube, in der ersten Halbzeit haben wir viel richtig gemacht. Wir wollten Penalties provozieren, das haben wir auch geschafft, aber wir konnten den Penalty dann nicht verwandeln. Sonst hätten wir vielleicht 1:0 in Führung gehen können und damit hätten die Chinesen drei Tore erzielen müssen, um sich im Anschluss durch die Tordifferenz qualifizieren zu können. Das wir den Penalty nicht verwandeln konnten, war echt schade. Sonst wäre das Spiel vielleicht in eine andere Richtung gegangen. Dann hätte China auch mehr unter Druck gestanden, noch mehr raus kommen zu müssen und es hätte vielleicht noch mal den ein oder anderen Penalty gegeben. Aber das wir nicht so eine hohe Penalty-Quote wie in den Vorbereitungsturnieren oder bei der WM hatten, hat uns ja auch schon in den anderen Spielen begleitet.

Wie geht es jetzt weiter?

Nächsten Sommer findet die Weltmeisterschaft in China statt. Davor muss definitiv eine Europameisterschaft stattfinden, damit man sich überhaupt für die WM qualifizieren kann. Die EM war für den November angesetzt, ist bisher aber noch nicht ausgeschrieben, deswegen ist nicht absehbar, wann das Turnier stattfinden wird. Vermutlich aber im Januar oder Februar. Das heißt, wir haben jetzt ein bisschen Zeit wieder aufzustehen, uns neu auszurichten und auch, um auf Trainersuche zu gehen. Ich glaube, das sollte man machen, wenn man ein bisschen emotionalen Abstand gewonnen hat.

Das heißt, es gibt noch keinen Nachfolger für Cheftrainer Johannes Günther?

Nein, es gibt noch keinen Nachfolger. Aus meiner Sicht als Sportler würde es Sinn ergeben, mit Co-Trainer Stefan Weil weiterzumachen. Aber wie gesagt, ich bin nur Spieler, nicht Entscheidungsträger. Stefan muss sich auch selbst erst einmal überlegen, ob er den Weg so weiter gehen will und ob er das Ruder übernehmen möchte. Am Ende entscheidet das aber der DBS und nicht wir Spieler. Aber ich könnte mir Stefan in der Rolle schon gut vorstellen.

Herr Tiede, Sie haben gesagt, eine große Stütze sind Ihre Freundin und Ihr Sohn. Ist da in Ihnen schon ein Fünkchen Wiedersehensfreude und der Wunsch Sie wieder in den Arm zu schließen, um das gemeinsam zu verarbeiten?

Meine Freundin hatte am Abend selbst noch ein Spiel, sie weiß gar nicht, wie sie dieses Spiel absolvieren soll, weil sie natürlich auch extrem mitgelitten hat. Aber es ist schon schön zu wissen, dass zu Hause jemand auf dich wartet, jemand, der für einen der Anker ist. Charlotte und ich haben es eigentlich in den letzten Jahren immer gut hinbekommen, füreinander der Anker zu sein. Ich glaube, das wird zu Anfang jetzt keine leichte Zeit, dass alles zu verarbeiten. Wie gesagt, es fühlt sich unvollkommen an. Seit 2012 haben wir als Mannschaft auf Tokio hintrainiert und jetzt ist Tokio einfach vorbei. Das Ziel, auf welches man neun Jahre hingearbeitet hat, ist jetzt weg. Dementsprechend hat man auch ein bisschen Angst vor der Zukunft. Wir waren zwar auch in Rio, aber wir haben schon 2012 gesagt, wir sind vom Erfahrungslevel, von der Altersstruktur eigentlich eine Tokio-Truppe. Dieses Kapitel ist jetzt zu Ende und ich bin gespannt, welches neue Kapitel sich aufschlägt, aber ich kann es gerade nicht einschätzen.

Traut man sich da schon ein Blick auf Paris 2024 zu werfen?

Auch da müssen wir erst einmal unsere Hausaufgaben machen. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir jetzt nicht sagen, das Ausscheiden sei ein Zufall oder ein schlechter Scherz gewesen. Es gibt schon Gründe, warum wir gewisse Spiele verloren haben oder wir vielleicht zu gering gewonnen haben. Wir sind ja nicht nur wegen der Punkte ausgeschieden, sondern auch wegen der Tordifferenz. Dementsprechend müssen wir auch erst mal zusehen, dass wir uns bei der EM für die WM qualifizieren. Ich denke, wir brauchen den Kopf jetzt nicht in den Sand zu stecken und zu sagen, wir sind eine schlechte Truppe, das ist es nicht. Aber wir müssen sportlich jetzt erstmal unsere Hausaufgaben machen, um dann auch wieder von Paris reden zu können.

Vielen Dank für das Interview zu so später Stunde in Tokio.

Sehr gerne. Ich glaube, ich gehe heute sowieso sehr spät ins Bett.

Das Interview wurde am späten Montagabend (deutscher Zeit) am Telefon geführt und ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.

Elena Deutscher

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