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Ein Blatt Papier in einer Klarsichtfolie, DIN A4-Format, blau, gelb. In Großbuchstaben protestierte Vladyslav Heraskevych gegen die Kriegspläne der Russen.

© picture alliance/dpa/NBC/AP

Aktionen während der Paralympics: Protest ist nicht gleich Protest

Protest bei den Spielen ist verboten und wird bestraft. Doch nicht jede Meinungsäußerung wird konsequent sanktioniert. Ist das ein Aufweichen der strengen Vorgaben?

An dieser Stelle berichtete das Team der Paralympics Zeitung, ein Projekt von Tagesspiegel und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Alle Texte zu den Spielen rund um Peking finden Sie hier. Aktuelles finden Sie auf den Social Media Kanälen der Paralympics Zeitung auf Twitter, Instagram und Facebook.

Dass die Paralympics nicht politisch neutral sind, zeigte einmal mehr der U-Turn des IPC beim Ausschluss der russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten bei den Paralympischen Spielen. Wie sieht es während der Winterspiele in Peking mit der „Neutralität“ auf dem Feld aus? Ein Kniefall auf dem Podest, eine erhobene Faust auf dem Spielfeld, ein Anti Kriegs-Banner – das sind Symbole, die Millionen von Menschen erreichen können. In Peking waren es bislang unauffällige Gesten wie das Absetzen von Mützen während der Eröffnungsfeier und der Medaillenzeremonie, die als Zeichen für den Frieden in der Ukraine zu deuten waren. Im Zuge der Eskalationen im Krieg gegen die Ukraine sowie der Menschenrechtsverletzungen in China ist zu erwarten, dass Para-Athletinnen und Athleten ihre Bühne in den kommenden Tagen vermehrt für politische Botschaften nutzen könnten. Die Frage nach freier Meinungsäußerung während der Spiele ist keine neue, aber eine mit nach wie vor unzureichenden Antworten.

Auch in diesen Tagen antwortet Andrew Parsons ausweichend. Für den Präsidenten des Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) sei eine „theoretische Frage“. Politische Botschaften im Rahmen der Spiele sind grundsätzlich nicht erlaubt. „Wenn so etwas vorkommt, müssen wir schauen, von wem, wann und wo“, sagt Parsons. Mütze abnehmen und Peace-Zeichen seien „eine gute Geste, die Eröffnungsfeier nicht zu unterbrechen und trotzdem eine Gelegenheit zu suchen, Respekt und Solidarität zu zeigen. Das ist der Geist der Spiele“, sagt Parsons. 

Ganz konkret heißt es im Handbuch des IPC unter Section 2.2: „Keine Art von Demonstration oder politischer, religiöser oder rassistischer Propaganda ist an den paralympischen Austragungsorten oder in anderen Bereichen im Zusammenhang mit den Paralympischen Spielen erlaubt.“ Das IPC führt weder aus, was „Propaganda“ bedeutet noch welche Folgen im Falle eines Regelbruchs drohen. Das Handbuch des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) enthält die im Sinn und Wortlaut ähnlich klingende „Rule 50“.

Bei den Olympischen Spielen in Peking sorgte ein Blatt Papier in einer Klarsichtfolie für Aufsehen, DIN A4-Format, blau, gelb, es zeigte die ukrainische Flagge. In Großbuchstaben war darauf zu lesen: „No war in Ukraine“. Vladyslav Heraskevych hielt es in eine der unzähligen Kameras während der Olympischen Spiele. Drei Wochen ist es her, dass der ukrainische Skeleton-Rennfahrer nach einem Wettkampf dieses politische Statement setzte. Sanktionen für den Athleten blieben aus, die offizielle Erklärung des IOC lautete: „,Kein Krieg' sei eine Botschaft, mit der wir uns alle identifizieren können.“ Der Protest Heraskevychs „war hier also ein riskanter Vorstoß, der zum Glück dank des Augenmaßes nicht geahndet wurde“, sagt Mareike Miller, Kapitänin der Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft und Aktivensprecherin. „Dass dies hier jedoch nur nach Augenmaß und ohne Sicherheit für die Sportlerinnen und Sportler stattfindet ist nicht hinnehmbar.“ Das IOC machte in seiner Erklärung gleichzeitig klar, dass es nicht möchte, dass andere Sportlerinnen und Sportler sich diesen Zeichen anschließen. Und das ist der Punkt.

Eine Bühne von enormer Reichweite

Das IOC und IPC hegen den Anspruch, ihre Wettkämpfe auf „neutralem“ Boden zu veranstalten. Im Vordergrund soll die verbindende Kraft des Sports stehen, die friedliche Zusammenkunft von Menschen und damit repräsentativ auch von Ländern und der ganzen Welt. Sich zu Geschehnissen auf eben dieser Welt in den Wettkampfarenen zu äußern, gilt als Störung, als Bruch einer sportlichen Utopie. Wessen Utopie aber? In zwei Wochen Paralympics mögen die Sportlerinnen und Sportler Ideale eines friedvollen, "magischen" Miteinanders erleben. Die Kriegsgeschehnisse in unterschiedlichen Ländern betreffen einige Teilnehmende familiär, sehr viele werden in den restlichen 50 Wochen des Jahres mit Behindertenfeindlichkeit, Armut, Rassismus oder Sexismus konfrontiert und einige wollen sich solidarisch dazu äußern – auf einer Bühne, die von enormer Reichweite ist.

Historisch ist der Protest der Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos.

© imago images/United Archives International

„Die beiden Komitees messen der vermeintlichen politischen Neutralität mehr Wert bei als den fundamentalen Rechten der Athletinnen und Athleten“, sagt Maximilian Klein, Beauftragter für Internationale Sportpolitik bei Athleten Deutschland e.V.. Athletinnen- und Athleten-Vertretungen und Sportlerinnen und Sportler überall auf der Welt fordern Änderungen in den Chartas. „Sportlerinnen und Sportler, die sich innerhalb des menschenrechtlich gedeckten Rahmens zu Anliegen ihrer Wahl äußern wollen, sollte diese Möglichkeit offenstehen“, sagt Mareike Miller: „Das gilt auch für das Podium oder das Spielfeld. Die Rule 50 schränkt aber genau das noch pauschal ein“, .

Der Ruf nach Freiheiten ist kein neuer, sondern ein lange ignorierter

Seit über 50 Jahren setzen Athletinnen und Athleten ihre Stimme immer wieder auf dem Feld ein, um Solidarität zu bekunden und Menschenrechte hochzuhalten – nicht folgenlos. Historisch ist der Protest der Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos. 1968 gewannen sie bei Olympia in Mexiko-Stadt Gold und Bronze im 200-Meter-Lauf, Smith lief Weltrekord. Auf dem Siegerpodest zogen die beiden Athleten während der US-amerikanischen Nationalhymne ihre Schuhe aus, senkten ihre Köpfe und streckten ihre mit schwarzen Handschuhen bedeckte Fäuste in die Luft, still. Die Faust ist ein Symbol der Black-Power-Bewegung für die Befreiung schwarzer Menschen. Die Aufnahme in Schwarz-weiß geht heute noch um die Welt, ist ein Aufruf, gegen Ungerechtigkeiten aufzustehen. Das IOC hatte damals eine klare Meinung: Neben rassistischen Ächtungen des IOC hatte die Geste den Ausschluss der beiden Leichtathleten aus der US-amerikanischen Mannschaft als Konsequenz. Heute feiert das IOC auf seiner Internetseite den Protest als einen der "ikonischsten Momente Olympias".

Tamiru Demisse kreuzte 2016 in Rio seine Hände über dem Kopf

© imago/AFLOSPORT

Auch der äthiopische Para-Leichtathlet Tamiru Demisse nutzte 2016 in Rio seine Bühne – mit einem X als Zeichen des Protests. Der Zweitplatzierte des 1500-Meter-Laufs kreuzte auf der Zielgeraden seine Hände über dem Kopf – als Widerstand gegen die Regierung seines Heimatlandes, die die größte ethnische Gruppe Äthiopiens, die Oromo, verfolgte. Für das IPC ein No-Go. „Wir haben ihm sehr klargemacht, dass wir politische Zeichen während der Spiele nicht akzeptieren“, sagte der damalige IPC-Präsident Sir Philip Craven. Begriffe wie „Frieden“ und „Würde“, mit denen sich die Komitees schmücken, machen sich scheinbar in der Charta gut, nicht aber auf dem Feld.

Erste Steine kommen ins Rollen …

Der stetige Druck durch Verbände und Athletinnen und Athleten erreichen die Scheinneutralität des IPC und IOC und scheinen langsam Veränderungen voranzutreiben – mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Fall Smith und Carlos. Erste Lockerungen bestimmter Vorschreibungen kamen nach monatelangen Konsultationsverfahren kurz vor den Sommerspielen in Tokio 2021. Das IOC verkündete zuerst, dass Athletinnen und Athleten von nun an in den Wettkampfstätten ihr Recht auf Meinungsäußerung ausüben dürfen, bis kurz vor Beginn ihres Wettkampfs. Voraussetzung: Die Äußerungen richten sich nicht gegen „Menschen, Länder, Organisationen“ und stören Mitspielende nicht. Das olympische Dorf und Medaillenzeremonien bleiben für Protestaktionen weiterhin tabu.

Einen möglichen Präzedenzfall sieht Mareike Miller im Fall von Nike Lorenz. Die deutsche Hockeyspielerin und Kapitänin des Olympiateams beantragte vor den Spielen in Tokio zusammen mit dem Deutschen Olympischen Sportbund sowie dem Deutschen Hockey-Bund, ihre Regenbogenbinde auf dem Feld tragen zu dürfen. Es war das erste Mal, dass jemand einen solchen Antrag stellte – und das IOC gab grünes Licht für das Anliegen von Lorenz. „So eine Binde nimmt dem Spiel nichts weg oder beeinflusst es. Es ist ein klares Zeichen, das auch auf dem Spielfeld seinen Platz haben sollte“, sagt Miller. Sie hofft, dass das IPC Transparenz in seine Richtlinien bringt. „Gerade ein Podium kann nochmal eine ganz andere Plattform für Athletinnen und Athleten sein als ein Interview, um wichtige Themen zum Ausdruck bringen zu können und sich für das Richtige einzusetzen.“

… aber wie weit?

Die Lockerungen, der Fall Lorenz und zudem die Sanktionsfreiheit für Heraskevych – ein Triumph für die Menschenrechte? Ein Umdenken bei den Athletinnenkommissionen? Eine Bereitschaft des IPC und IOC, Regelungen zur Meinungsfreiheit grundsätzlich zu ändern, sieht Miller trotz der Sanktionsfreiheit für Heraskevych bislang nicht unbedingt. Zu willkürlich werde zurzeit noch entschieden, welche Gesten zulässig seien und welche nicht. Abgesehen von der intransparenten Regelung des IPC samt ihrer Konsequenzen, sieht Miller im aktuellen Gastgeberland ein zusätzliches Hindernis für möglichen Protest: Ein Mitglied des chinesischen Organisationskomitees habe vor den Olympischen Spielen Athletinnen und Athleten mit Strafen für kritische Äußerungen gedroht, die sich gegen den olympischen Geist sowie den chinesischen Gesetzen richten. „Leider ist im chinesischen Kontext völlig unklar, wie auf kritische Statements reagiert wird. Wenn Athletinnen und Athleten sich aus reinem Selbstschutz selbst zensieren, kann ich das nachvollziehen“, sagt Miller.  

Die deutsche Hockeyspielerin Nike Lorenz trug bei den Spielen in Tokio die Regenbogenbinde am Fuß.

© imago images/ANP

Ernüchternd fällt auch das Urteil von Athleten Deutschland e.V. aus: „Die Athletenkommissionen sind Strukturen, die nicht unabhängig von IOC, bzw. IPC agieren und nicht für ihre Kritik an grundlegenden Problemen bekannt sind“, sagt Maximilian Klein. Zuletzt sorgte die neue Vorsitzende des IPC-Athletenrats, Jitske Visser, für Aufmerksamkeit. Nach der ersten Entscheidung des IPC, russische und belarussische Sportlerinnen und Sportler antreten zu lassen, sprach sie davon, dass jetzt hoffentlich der ganze Fokus auf dem Sport liegen könnte. Sie sprach von Krisen in der Ukraine und nicht vom Krieg. Die Fassade der Neutralität, hinter die sich das das IPC samt der Athlet*innenkommissionen decken, scheint immer weiter zu bröckeln. Sie reichen über die Frage nach dem Protest bei den Spielen hinaus.

Athleten Deutschland e.V. plädiert für mehr Transparenz und Umstrukturierungen für die Section 2.2 und die Rule 50. Das Verbot der Meinungsfreiheit sollte weder auf dem Podium noch auf dem Spielfeld pauschal gelten. Der Sport bräuchte vielmehr Verfahren, die die Zulässigkeit von freier Rede mit geringen, aber spezifizierten Regulierungen konkretisieren, indem sie beispielsweise Einzelfälle individuell bewerten oder Hassreden sowie die Verbreitung von Unwahrheiten untersagen. Keine leichte Aufgabe, die mit vielen Fragen verknüpft ist: Nach welchen Kriterien bewertet man Protestaktionen? Wer entscheidet? Bei den Sommerspielen trugen zwei chinesische Bahnradfahrerinnen Pins bei der Medaillenzeremonie, die den früheren Staatspräsidenten Mao Zedong abbildeten. Wie sollte mit diesen politischen Statements umgegangen werden? Es wäre in jedem Fall an der Zeit, sich diesen Fragen zu stellen.

Athleten Deutschland e.V. verfügt über ein Netzwerk aus Anwält*innen, um seinen Mitgliedern, die bei den Spielen an den Start gehen, Rechtsbeistand bei Protestaktionen zu leisten – sollte dieser notwendig werden. „Niemand unter den Teilnehmenden muss sich äußern, aber alle müssen ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen können. Es geht also um Wahlfreiheit. Die, die sich äußern wollen, brauchen dafür sichere Bedingungen und dürfen keine Nachteile oder gar Repressalien fürchten. Meinungsfreiheit und friedliche Spiele schließen sich nicht aus.“

Delia Kornelsen

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