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Alles auf Abwehr. Per Mertesacker fühlte sich den Belastungen in seinem Berufsleben zeitweise kaum noch gewachsen.

© dpa/Nigel French

Die Autobiografie des Ex-Nationalspielers: Per Mertesacker: Ohne Talent, aber mit Durchblick

Deutschlands Weltmeister von 2014 hat eine Autobiografie über seine besondere Karriere geschrieben. Den etwas anderen Blick aufs Fußballgeschäft gibt er beim FC Arsenal jetzt an Jugendliche weiter.

Zweieinhalb Monate ist es her, dass Per Mertesacker seine überaus erfolgreiche Karriere als Fußballer beendet hat. Einige Wochen zuvor hat der Verteidiger des FC Arsenal und frühere Nationalspieler mit ein paar Äußerungen über seine Erfahrungen als Profi mehr Wirbel ausgelöst als vielleicht mit jeder seiner ungezählten Aktionen auf dem Fußballplatz. In einem Gespräch mit dem „Spiegel“ hat er sich über die Zumutungen seines Berufs geäußert, über die Belastungen für seine Seele, denen er sich zeitweise kaum noch gewachsen fühlte.

Es folgten die erwartbaren Reaktionen des Establishments, das sich auch während und nach der Weltmeisterschaft in Russland mit seltsamen Einlassungen etwa in der Causa Özil zu Wort gemeldet hat. Lothar Matthäus zum Beispiel war nach Mertesackers Enthüllungen regelrecht erschüttert. „Wie will er nach diesen Aussagen weiter im Profifußball tätig sein?“, fragte Deutschlands Rekordnationalspieler. „Er hat doch die Idee, im Nachwuchs zu arbeiten. Wie will er einem jungen Spieler diese Professionalität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist? Das geht nicht.“

Vermutlich waren Mertesackers Enthüllungen auch der Versuch, seine bald darauf erscheinende Autobiografie ein bisschen zu promoten. Gemessen an der allgemeinen Erregung in diesem Frühjahr wird seine Versagensangst in seinem Buch eher beiläufig und alles andere als reißerisch behandelt.

Was sich im Übrigen auch über das gesamte Werk sagen lässt. Es enthält, im Gegenteil, viele kluge und kritische Gedanken zum Fußballbusiness. Und überhaupt: In einer Zeit, in der der Fußball dazu neigt, sich permanent selbst zu überhöhen, ist „Weltmeister ohne Talent“ schon mal ein ziemlich lässiger Titel für eine Autobiografie. Offen, nachdenklich und intelligent – so wie der Mensch Per Mertesacker, so kommt auch sein Buch daher.

Der richtige Mann für den Nachwuchs

Und um Lothar Matthäus zu beruhigen: Dass jemand wie Mertesacker dem Fußball als Nachwuchsleiter beim FC Arsenal erhalten bleibt, kann man nach der Lektüre seiner Autobiografie nur begrüßen. Das hängt auch mit seiner Geschichte zusammen.

Mertesacker stammt aus einem bürgerlichen Elternhaus, aus einer intakten Familie, einem geerdeten Umfeld, und auch wenn die Selbsteinschätzung „ohne Talent“ natürlich ironisch übertrieben ist: Der Weg, den Mertesacker gegangen ist, von Pattensen in der niedersächsischen Provinz bis zum WM- Finale im Maracana, der war ganz sicher nicht vorgezeichnet. In der C-Jugend teilte ihm sein Trainer mit: Per, das wird nichts. „Der Traum, Fußballprofi zu werden, war nicht zerstört“, schreibt Mertesacker. „Ich hatte ihn nie gehabt.“

Hätte es zu seiner Teenagerzeit schon die Nachwuchsleistungszentren in ihrer heutigen Form gegeben, dann gäbe es jetzt keinen Weltmeister Per Mertesacker. Als Spätstarter mit körperlichen Defiziten wäre er der Auslese schon früh zum Opfer gefallen. Davon ist Mertesacker überzeugt. Dass er dem System der steten Selektion in seiner neuen Funktion mit Skepsis begegnet, versteht sich daher von selbst.

„Es ist schon Wahnsinn, was der Fußball mit einem macht, ohne dass man es selbst richtig merkt“, schreibt Mertesacker. Trotzdem hat er sich einen gesunden Blick auf die vollkommen überdrehte Branche bewahrt, der ihm in seinem neuen Job zugutekommen wird. Vor allem aber wird er den Jugendlichen zugutekommen, die ihm künftig anvertraut sind. Mertesacker klagt, dass ihm „in unserem Geschäft immer so ein bisschen die Neugier“ gefehlt habe. Doch wo soll diese Neugier herkommen, wenn „die jungen Spieler in den Nachwuchsakademien außer Bällen kaum noch etwas zu sehen bekommen“?

Beim FC Arsenal, um nur ein Beispiel zu nennen, müssen alle Minderjährigen mit dem Taxi zum Training chauffiert werden. Mertesacker wendet sich gegen diese Art der Rundumbetreuung, weil sie mit dem realen Leben nichts zu tun habe. „Im Fußball galt früher die Formel: Erfolg führt zu finanziellem Wohlstand“, schreibt er. „In der Premier League wird die erste Stufe ausgelassen. Man kann reich werden, ohne je ein einziges Spiel mit der ersten Mannschaft zu bestreiten.“ Dass das für eine nachhaltige Entwicklung der jungen Spieler Gift sei, liege auf der Hand.

Das Leben als Schule für den Fußball

Das letzte Kapitel in Mertesackers Buch ist so etwas wie ein Manifest für seine künftige Tätigkeit als Nachwuchsleiter, ein sechsseitiges Glaubensbekenntnis. Es sei ein Fehler, „junge Menschen geistig und organisatorisch so zu unterfordern, wie es in den Akademien geschieht“, schreibt er. Alles werde ihnen abgenommen. „Und so laufen sie dann auch auf dem Platz herum: orientierungslos. Sie können auf unvorhergesehene Dinge nicht reagieren, unter Druck keine eigenständigen Entscheidungen treffen.“ Das Problem, das nur am Rande, hat der englische Fußball ganz sicher nicht exklusiv.

Mertesacker will, dass die Nachwuchsspieler, die sich oft schon wie künftige Weltmeister fühlen, während ihrer fußballerischen Ausbildung auch mit der Normalität konfrontiert werden, dass sie in der Akademie neben Spielzügen und Formationen auch fürs Leben lernen: „Fußball darf nicht der einzige Sinn und Zweck eines 16-jährigen Menschen sein.“

Oft heißt es, der Fußball sei eine Schule fürs Leben. Per Mertesacker ist der Ansicht: „Das Leben ist auch eine Schule für den Fußball.“ Das beste Beispiel dafür ist: er selbst.

Per Mertesacker (mit Raphael Honigstein): Weltmeister ohne Talent. Mein Leben, meine Karriere. Ullstein extra. 271 Seiten, 20 Euro.

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