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Alles auf Zucker. Ali Lacin vor seinem süßen Sortiment.

© privat

Para-EM Leichtathletik: Umzingelt von Süßigkeiten - und dennoch Spitzenathlet

Ali Lacin rennt bei der Para-EM der Leichtathletik in Berlin um eine Medaille. Dabei muss er täglich Versuchungen widerstehen: Er ist Süßwarenhändler.

Ali Lacin ist umstellt. Überall in den meterhohen Regalen um ihn herum lauern kleine Dinge, die ihm gefährlich werden können. Manche haben sich unsichtbar gemacht in Pappkartons oder mindestens in eine Plastikbox gehüllt und mit einem Verschluss versiegelt. Andere strahlen ihn in ihren bunten Farben ganz offen an, er bräuchte nur zuzugreifen.

Jeder Gang durch sein Geschäft ist ein Lauf der Versuchung. Sein Großhandel „Sweetstore“, den Lacin mit seinen beiden Brüdern unweit des S- und U-Bahnhofs Wedding betreibt, verkauft Süßigkeiten aller Art, Fruchtgummi, Schokoriegel, Bonbons, Lollis, Kekse. Wie hat es Lacin da nur geschafft, Leistungssportler zu werden? Bei den Para-Europameisterschaften der Leichtathleten in dieser Woche im Jahn-Sportpark könnte er sogar eine Medaille gewinnen, am Dienstag im 200-Meter-Rennen der beidseitig oberschenkelamputierten Läufer.

Im Sport hat Ali Lacin den Spitznamen „Candyman“ bekommen, so wird er manchmal auch bei Wettkämpfen angekündigt. Sein jahrelanger Arbeitsplatz ist genau das Gegenteil eines Kraftraums. Hier hat es alles auf seine Form abgesehen. Ständig ist seine Disziplin gefordert. „Bei mir ist es vor allem Schokolade, und zum Kaffee brauche ich eigentlich immer ein Stück Schokoladenkuchen“, erzählt Lacin im Büro über dem Verkaufsraum. „Zum Glück verkaufen wir kein Eis. Da könnte ich mich nicht zurückhalten. Aber alle zwei bis drei Tage mal ein Schokoriegel, das geht noch.“

Die Dosen sind offen - er bräuchte nur zugreifen

Mit Fruchtgummi und Lollis habe er es privat nicht ganz so, dafür geschäftlich umso mehr. Sein Großhandel hat sich auf vegetarische Fruchtgummi spezialisiert. Und auf den Süßwarenmessen, etwa in Köln, seien sie ständig auf der Suche nach Neuigkeiten. „Man muss schon sehr viel probieren“, sagt er. So seien sie etwa auf schwedische Süßigkeiten gekommen, die im Gegensatz zu anderen Fruchtgummis ohne Gelatine nicht so an den Zähnen klebten. „Superlecker“, sagt Lacin.

Viele Süßigkeiten stehen in Großpackungen in Regalen, die dann am Kiosk landen oder in einer Bäckerei, Erdbeeren, Colaflaschen, Schnuller aus süßem Gummi. Direkt neben dem Eingang laden mehrere offene Dosen jeden ein, sich eine bunte Tüte zusammenzustellen. Sein jüngerer Bruder erzählt, dass sie sich beim Essen schon mal umdrehten, damit er ihnen nicht zuschauen müsse.

Inzwischen ist Ali Lacin nicht mehr täglich zum Verkauf im Laden. Seine Brüder erledigen jetzt das meiste. „Selbständigkeit und Leistungssport sind schwer zu vereinbaren, weil ständig Kunden anrufen und Bestellungen abzuwickeln sind.“ Er ist noch Geschäftsführer und nennt den Laden „mein zweites Zuhause“, weil er so oft herkomme. Aber er hat inzwischen einen anderen Job. In Teilzeit arbeitet er für das städtische Immobilienunternehmen „Stadt und Land“ und soll sich dort um den strategischen Einkauf kümmern. Die Arbeit lasse ihm die Flexibilität zum Training, dreimal in der Woche geht es auf die Laufbahn, zweimal in den Kraftraum und zweimal zur Elektromyostimulation, bei dem die Muskeln durch elektrische Reize trainiert werden sollen.

"Freisein, Schweben - traumhaft"

Dass er sich noch einmal so auf den Sport konzentriert, hängt auch viel mit der EM in der eigenen Stadt zusammen. Im vergangenen Jahr hatte Lacin schon an seinem Sport zu zweifeln begonnen. Arbeit, Familie, Training, Wettkämpfe, das wurde ihm auf einmal zu viel. Mit der EM in Berlin hatte er jedoch wieder ein großes Ziel vor Augen. In der Weltrangliste steht er zurzeit auf Platz drei. „Ich möchte die Berliner nicht enttäuschen und eine Medaille gewinnen“, sagt er.

Im Jahn-Sportpark bekommt er nun eine große Bühne, obwohl er doch früher seine Behinderung am liebsten versteckt hätte. Sport in der Öffentlichkeit kam nicht in Frage. Doch 2011 rief ihn ein Freund an, er solle schnell den Fernseher anschalten, dort zeigte gerade Vanessa Low Höchstleistungen mit Prothesen und künstlichen Kniegelenken in der Leichtathletik. „Das hat mich unglaublich motiviert. Sie hatte ihre Beine erst mit 15 beim Zugunfall verloren. Ich bin quasi mit meiner Behinderung großgeworden.“ Schon als kleines Kind waren ihm die Unterschenkel abgenommen worden.

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Beim PSC Berlin fand er gleich Anschluss und mit Ralf Otto einen kompetenten Trainer. Der besorgte ihm Prothesen – von Vanessa Low. „Im Sport habe ich geschafft, was ich all die Jahre nicht konnte: Das Laufen auf den Federn ist ein Gefühl von Freisein, von Schweben – es ist traumhaft“, sagt Ali Lacin. Ein Jahr habe er gebraucht, um das richtige Laufen mit den Sportprothesen zu lernen. Jetzt ist Ali Lacin 30 und greift nach seinem größten Erfolg. Einen inoffiziellen Titel dürfte er schon gewonnen haben: der athletischste Süßwarenhändler weit und breit zu sein.

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