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Der perfekte Packing-Spieler. Bei den offensiven Werten ist im Weltfußball kaum jemand so gut wie Toni Kroos.

© Imago/Müller

Hertha BSC: Fußball und Datenanalyse: Packing - Von der Idee gepackt

Da ist nicht nur Mehmet Scholl begeistert: Herthas Profi Jens Hegeler hat mit der Packing-Methode die Datenanalyse im Fußball revolutioniert.

Am Ende war es sein geschundener Körper, der die Fußballkarriere des früheren Nationalspielers Stefan Reinartz vorzeitig beendet hat. Im Frühjahr, mit gerade 27 Jahren, hat er von einem Tag auf den anderen als Profi bei Eintracht Frankfurt aufgehört. Es war aber auch der geschundene Körper, der Reinartz’ Karriere nach der Karriere den vielleicht entscheidenden Schub verpasst hat. Bei einem Besuch in der Praxis von Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in München hat Reinartz zufällig Mehmet Scholl getroffen, den Fußball-Experten der ARD. Man kam ins Plaudern, Reinartz erzählte von seinem neuen Projekt, einer Datenerhebungsmethode zur Analyse von Fußballspielen. Und Scholl war gleich hin und weg.

Wie hin und weg er war, konnte man im Sommer bei der Europameisterschaft beobachten, als Scholl in der ARD immer wieder auf das Verfahren zurückgriff, das Reinartz mit seinem früheren Leverkusener Mitspieler Jens Hegeler entwickelt hat. Dank Scholls Eifer ist die Methode jetzt gewissermaßen mit einem Gütesiegel versehen und das Packing in den fußballtheoretischen Diskurs aufgenommen. Auch deshalb sitzt Jens Hegeler, der Profi von Hertha BSC, am Dienstagabend beim ersten Fußball-Salon in der Bar des Deutschen Theaters, gemeinsam mit Marco Baldi, dem Geschäftsführer des Basketball-Bundesligisten Alba Berlin. „Ich weiß nicht, was ihr mit dem Scholl gemacht habt“, sagt Baldi, „aber der war ja wie besessen.“

In der ARD wurde so penetrant über Packing geredet, dass es selbst Hegeler fast peinlich war. Zumal der Eindruck entstanden ist, dass es nur darauf ankommt, Gegner zu überspielen, sie zu packen (daher der Begriff Packing) und auf diese Weise aus dem Spiel zu nehmen. Da wäre es dann natürlich auch kein Wunder, dass ein Offensivspieler wie Toni Kroos besser wegkommt als ein Verteidiger wie Benedikt Höwedes. Aber es gibt eben auch noch eine andere Seite der Medaille: Ein Verteidiger kann mit einer erfolgreichen Grätsche seine überspielten Kollegen wieder ins Spiel zurückholen, so wie es Höwedes im EM-Halbfinale mit seiner Grätsche gegen den Franzosen Olivier Giroud getan hat.

„Es ist erstaunlich, dass sich aktive Sportler mit solchen Dingen beschäftigen“, sagt Marco Baldi. „Das ist sensationell.“ Auslöser war bei Reinartz und Hegeler eine Unzufriedenheit mit den bestehenden Systemen – aber auch persönliche Betroffenheit, wie Hegeler erzählt: „Wir haben immer gedacht, dass wir besonders gute Fußballer sind, aber die Werte haben gesagt: Wir sind besonders schlecht.“ Das mag daran liegen, dass die bisherigen Analysemethoden nur quantitative Daten erhoben haben. So macht es für die Passquote keinen Unterschied, ob der Sechser mit einem Steilpass den Stürmer freispielt oder den Ball nur zum Torwart zurückschiebt. Hegeler und Reinartz haben hingegen versucht, in die Daten „eine Wertigkeit reinzubekommen“.

Beim Packing gebe es eine "unglaublich hohe Korrelation zum Endergebnis"

Der letzte Impuls war eine Veranstaltung der Sporthochschule Köln, die beide vor drei Jahren besucht haben. 10.000 Fußballspiele hatten die Wissenschaftler untersucht – nur um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Ballbesitz und Ergebnis gibt. Von den Siegern hatte die Hälfte der Teams mehr Ballbesitz, die andere weniger. Beim Packing hingegen, so Hegeler, gebe es eine „unglaublich hohe Korrelation zum Endergebnis“. Bei der EM hätten die Mannschaften, die mehr gegnerische Verteidiger überspielt haben, zu 94 Prozent gepunktet. Er kenne nur eine Statistik, die in dieser Hinsicht noch mehr Aussagekraft besitze, sagt Hegeler: „,Geschossene Tore’ schlägt alles.“

Marco Baldi ist aus dem Basketball einen anderen, viel selbstverständlicheren Umgang mit Spieldaten gewohnt; der Fußball ist da immer noch vergleichsweise rückständig. Trotzdem sagt er: „In drei, vier Jahren ist Packing Standard, das garantier’ ich.“ Anfangs haben Hegeler und Reinartz noch selbst die überspielten Verteidiger gezählt. Sie wollten herausfinden, ob ihr früherer Mitspieler Toni Kroos wirklich so gut ist, wie sie es immer empfunden haben. Also haben sie sich ein Champions-League-Spiel von Kroos angeschaut. Sie saßen mit Stift und Excel-Tabelle vor dem Bildschirm und haben Strichliste geführt. „Gefühlt haben wir zweieinhalb Tage gebraucht, um das Spiel auszuwerten“, erzählt Hegeler.

Inzwischen ist aus der Idee das Start-up Impect geworden, mit Stefan Reinartz als Geschäftsführer, sieben Angestellten, etlichen Honorarkräften und Jens Hegeler als eine Art Markenbotschafter. Seit der EM hat Impect den 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach als neue Kunden hinzugewonnen, auch Wettanbieter sind schon an das Unternehmen herangetreten – weil sie sich erhoffen, mit der neuen Methode ihre Quoten zu optimieren. Für die Klubs kann Packing ein wirksames Instrument beim Scouting sein, es kann auch Spieler dafür sensibilisieren, dass es im Fußball darauf ankommt, möglichst viele Gegner hinter sich zu lassen. „Das ist eigentlich logisch“, sagt Hegeler. „Aber es ist nicht jedem Trainer und Spieler bewusst.“

Trotz allem hat das System auch seine Grenzen. Jens Hegeler sagt: „Leider habe ich es noch nicht geschafft, es für mich in die Praxis umzusetzen und mein Spiel signifikant zu verbessern.“

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