zum Hauptinhalt
Thomas Morgenstern bei einem seiner Stürze.

© Imago

Ein Hoch auf die Vernünftigen: Mehr Angst wagen im Wintersport

Spitzensportler wie der ehemalige Skispringer Thomas Morgenstern müssen ihre Ängste allzu oft verbergen. Denn genau das suchen ja die Zuschauer in ihren Leistungen: das Übermenschliche. Oder ist es schon das Unmenschliche? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Benedikt Voigt

Es klang ein bisschen enttäuscht, was der norwegische Skirennfahrer Kjetil Jansrud am Wochenende auf Twitter schrieb: „Der Tiger ist zum Kätzchen geworden“. Weil Nebel und Schnee die Sicht stark behindert hatten, musste das gefährlichste Abfahrtsrennen der Welt derart verkürzt werden, dass es ein Rennen wie jedes andere war. Mit anderen Worten: langweilig. „Aber klar, Sicherheit geht vor“, schrieb der spätere Sieger im Nachsatz. Doch wirklich verständnisvoll wirkte es nicht. Eigentlich hätte er sagen müssen: Gott sei Dank, die Vernunft hat gesiegt. Aber das passt nicht zum Image der Gladiatoren des Winters, die sich tollkühn auch die steilsten Hänge hinunterstürzen. Und deshalb ist es umso ungewöhnlicher, was Thomas Morgenstern getan hat.

Der 28 Jahre alte Österreicher hat am Samstagabend erneut seinen Rücktritt vom Skispringen mit seiner Angst erklärt, die ihn nach mehreren dramatischen Stürzen nicht mehr losgelassen hatte. Wie unüblich so eine Begründung im Spitzensport ist, zeigt nicht nur, dass es das „Aktuelle Sportstudio“ auch ein halbes Jahr nach dessen Entscheidung für wert befunden hat, ihn zu diesem Thema einzuladen. Immer wieder muss er nun erklären, dass er seine Karriere tatsächlich „nur“ aufgrund dieses Gefühls beendet hat. Dabei ist es ein überaus menschliches Gefühl. Doch Spitzensportler dürfen ihre Angst offenbar gar nicht oder nur selten zugeben. Viel zu oft beklatschen wir alle, Medien und Zuschauer, das Übermenschliche. Oder ist es schon das Unmenschliche? 

Wir bejubeln den Fußballprofi, der trotz einer Gehirnerschütterung im WM-Finale weiterspielt, den Snowboardprofi, der trotz eines Kreuzbandrisses zum Olympiasieg fährt, den Skifahrer, der sich die steilste Abfahrtsstrecke der Welt hinunterstürzt. Dabei hat Rekord-Kitzbühel-Sieger Didier Cuche zugegeben, Angst gehabt zu haben, als er das erste Mal auf der Streif im Starthäuschen stand. Doch er habe nicht derjenige sein wollen, der mit der Gondel hinunterfährt. Thomas Morgenstern hat genau das gemacht.

Der Österreicher fährt nie mehr zum Skispringen mit der Gondel hinauf und hat damit wahren Mut bewiesen. Den Mut zur Angst. Was nützten ihm ein paar Weltcupsiege mehr, wenn er im Rollstuhl sitze, sagt Thomas Morgenstern. Man kann zurzeit leider nur hoffen, dass dieses Schicksal auch dem US-amerikanischen Skispringer Nick Fairall erspart bleibt, der seit dem 5. Januar in Österreich im Krankenhaus liegt und über dessen Rückenverletzung immer noch keine genauere Diagnose vorliegt.

Wir, die Medien und die Zuschauer, sollten viel öfter auch die Ängstlichen beklatschen, die Vorsichtigen und die Vernünftigen. Aber vielleicht fällt uns das auch deshalb so schwer, weil sie uns so ähnlich sind.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false