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Waren allesamt schon einmal Sündenböcke: Mario Gomez (l-r), Mesut Özil, Ilkay Gündogan.

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Kolumne Liebesgrüße aus Moskau: Liebe Nationalspieler, hört nicht auf das Geschwätz der anderen

Im Fußball ist es ein schmaler Grat zwischen Sündenbock und Leistungsträger. Ein guter Rat ist es daher wohl, manchmal auf taub zu schalten.

Mal angenommen, Toni Kroos hätte am Samstag in der 95. Minute nur das Außennetz getroffen oder den Ball gleich in die schwedische Abwehrmauer gedroschen – der Mittelfeldmann von Real Madrid wäre wohl einer der Sündenböcke fürs deutsche Ausscheiden gewesen. Neben Mesut Özil natürlich. So aber überschlugen sich die Gazetten und die Anhänger daheim vor Lob über den Geniestreich. Fußball ist bisweilen lustig.

Als Kroos nach dem Tor in die Kurve lief, umarmte ihn auch einer, der den schmalen Grat zwischen Sündenbock und Leistungsträger auf die harte Tour erlebt hat. Mario Gomez wurde über mehrere Jahre vom Nationalmannschaftspublikum ausgepfiffen, ganz gleich, wie der Stürmer kickte. Seit Gomez im EM-Gruppenspiel 2008 eine klare Chance verpasst hatte, galt der Stürmer als passionierter Chancentod und kassierte bei jeder Ballberührung gellende Pfiffe aus dem Publikum. Gomez bewahrte stets die Contenance, weil er ein denkender Profi ist und weil ziemlich klar war, was die Leute so aufbrachte. Er ist halt ein junger Mann von viel zu gutem Aussehen und einer Frisur, die tragischerweise auch bei Starkregen über 90 Minuten besser sitzt als auf den Plakaten beim Bahnhofsfriseur. Und Gomez ist ein Spieler, dessen betont aufrechter Gang so wenig dem Idealbild des im Sperrfeuer des unsichtbaren Gegners geduckt vorpreschenden Grenadiers entspricht.

Sympathie und Abneigung waren immer sehr ungleich verteilt

Das wirkt bisweilen aufreizend für eine Klientel, die ihrerseits etwa den vierten Stern auf dem Trikot nicht als nette Stickerei sieht, sondern als quasimilitärische Auszeichnung. Die auch dann mit unbändigem Stolz getragen wird, wenn der eigene Beitrag zum Titel lediglich darin bestanden hat, mit Erdnüssen und Fernbedienung in der Pranke das Sofa durchzusitzen. Natürlich gab es das schon früher, dass Sympathie und Abneigung sehr ungleich verteilt wurden. In der WM-Elf von 1990 etwa wurden kreuzbrave Kämpfer wie Andi Brehme und Guido Buchwald vom Fanvolk heiß geliebt.

Jürgen Klinsmann hingegen, der wegen seines VW-Käfers als Intellektueller und wegen der allzu langen Haare als Revoluzzer verdächtigt wurde, war den Anhängern zutiefst suspekt. Als Teamchef Franz Beckenbauer nach dessen Weltklassepartie gegen Holland im ARD-Interview missgünstig ins Mikro sprach, Klinsmann habe „weit über seine Verhältnisse gespielt“, traf das ziemlich genau die Empfindungen der Massen.

Gomez konnte also Trost darin finden, dass Sympathiebekundungen und Aversionen des Publikums Jahrzehnte alten und dabei erstaunlich stumpfen Regeln folgen. Und er ahnte, dass auch Missgunst irgendwann ermüdet. Heute gilt er als selbstverständlicher Teil der Nationalelf, als tapferer Kämpfer. Er gerät selbst nach desaströsen Kicks wie gegen Mexiko nicht ins Visier der Anhänger. Gomez ist insofern eine ermutigende Blaupause für Spieler wie Mesut Özil. Einfach weitermachen, nichts geben auf das Geschwätz der alten Recken, die rechten Populisten ignorieren, weiter die Schultern hängen lassen und trotzdem Tore vorbereiten. Toni Kroos hat derlei Probleme nicht. Er hat ja am Samstag getroffen.

Philipp Köster ist Geschäftsführer und Chefredakteur des Fußballmagazins 11FREUNDE. Hier schreibt er im Wechsel mit Harald Stenger, Frank Lüdecke,

Nadine Angerer, Jens Hegeler, Sven Goldmann und Roman Neustädter.

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