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Fördert und fordert. Thomas Hitzlsperger übte schon in seinen Zeiten als VfB-Profi mit dem Fußballnachwuchs.

© Baumann/Imago

Thomas Hitzlsperger: Junge Talente "stecken in einem brutalen Spannungsfeld“

Thomas Hitzlsperger spricht im Interview über die Erwartungen an Jugendfußballer und seine Arbeit als Nachwuchschef des Bundesligisten VfB Stuttgart.

Von David Joram

Herr Hitzlsperger, laut „Süddeutscher Zeitung“ haben Sie einen klaren „Werte- und Erfahrungskanon“. Was heißt das für Ihre Arbeit als Nachwuchschef des VfB?
Mir ist es wichtig, dass wir die jungen Menschen beim Erwachsenwerden so begleiten, dass sie ein erfolgreiches Leben führen können, das sich nicht ausschließlich über Fußball definiert. Ich habe selbst elf Jahre in einem Nachwuchsleistungszentrum verbracht und blicke voller Dankbarkeit zurück. Der Durchbruch zum Profi ist mir nicht nur deswegen gelungen, weil ich fest schießen konnte, sondern weil ich sehr gute Jugendtrainer hatte, die mich in allen Lebensbereichen gefördert und gefordert haben.

Wer es ganz nach oben schaffen will, muss auch egoistisch sein, heißt es häufig, erst recht im Fußballgeschäft. Trotzdem soll die soziale Kompetenz nicht zu kurz kommen. Wie funktioniert dieser Balanceakt?
Da muss ich widersprechen – Egoismus würde ich keinem unserer Spieler und Mitarbeiter empfehlen. Die Anforderungen sind umfangreich, aber wer nur an sich denkt, wird es schwer haben. Es wäre fahrlässig, nicht die Ratschläge der Trainer und Pädagogen und Mitarbeiter in den Leistungszentren anzunehmen.

Was können Sie Nachwuchsfußballern bieten – außer der Chance, Profi zu werden?
Wenn jemand viel Geld verdient, erwarten die Leute immer, dass der sowieso motiviert sein muss; nur funktioniert das so nicht. Spieler und Mitarbeiter brauchen eine Wertschätzung, die über das Geld hinaus geht. Jugendfußball ist nicht so knallhart, wie es manchmal dargestellt wird. Die Spieler und Mitarbeiter wollen erfahren, warum etwas passiert. Sie sind neugierig und wollen sich einbringen. Diese Gelegenheit möchte ich bieten.

Was haben Sie als „Direktor des Nachwuchsleistungszentrums“ (NLZ), wie es offiziell heißt, schon bewegen können?
Das ist ein Prozess, wie man so schön sagt. Das dauert, bis auch wirklich jeder verinnerlicht hat, was mir wichtig ist. Und auf der anderen Seite bilde ich mich weiter, teile Wissen, lasse mir Abläufe und Prozesse erklären. Ich bringe eine ungeheure Neugierde mit – und will die VfB-Jugend besser machen. Aber an manchen Stellen fehlen mir die Erfahrungswerte. Daher ist es gut, dass ich mich auf Mitarbeiter verlassen kann, die schon seit zehn, 15 Jahren hier sind. Die wissen sehr gut, was sich bewährt hat beziehungsweise was schiefgelaufen ist.

Was lief denn schief?
Es gab viele Wechsel im Verein, ob auf der Position des Cheftrainers oder des Sportdirektors, ebenso im NLZ. Das schlägt sich im Nachwuchs nieder, der in Beziehung zur Profiabteilung steht. Dazu kommt: Die Konkurrenzsituation hat sich verändert. Der VfB-Nachwuchs war ein Synonym für Erfolg und Disziplin. Jeder wusste: Dort wird hart gearbeitet.

Was geschah dann?
Wir sind nicht in dem Maße schlechter geworden, wie uns das gerne zugeschrieben wird. Aber andere sind besser geworden, haben in den Nachwuchs mehr Geld investiert, sich professionalisiert. Der Wettbewerb hat angezogen. Früher war klar: Wenn Jungs aus der Region Stuttgart gut sind, gehen sie zum VfB. Wenn wir sie wollen, dann kommen sie sicher.

Und heute?
Hast du Hoffenheim, Augsburg, Leipzig, Bayern und einige andere. Die sind alle da. Ein 16-Jähriger kann sich ohne weiteres vorstellen vom VfB nach – sagen wir mal – Leipzig zu gehen, wenn er denkt, das sei für seine Karriere gut. Der zieht quer durch die Republik, verlässt Eltern, Geschwister und wechselt die Schule, um zu dem Verein zu wechseln, der die vermeintlich beste Perspektive bietet – oder das meiste Geld. Die Risikobereitschaft ist deutlich gestiegen. Der Drang der Eltern, der Berater, in ihrem Sohn oder ihrem Klienten auch eine Wertanlage zu sehen, ist manchmal beängstigend.

Oder hat der VfB einfach nicht mehr so viel zu bieten?
Die VfB-Jugendabteilung muss sich vor keinem NLZ in Deutschland verstecken, davon bin ich überzeugt. Wir verbinden sportliche Ausbildung, schulische Bildung und Persönlichkeitsentwicklung in besonderem Maße. Es ist daher kein Zufall, dass wir nun ab Sommer auch noch die VfB-Akademie eröffnen werden, die neue Maßstäbe setzen wird.

Es gab mal die Zeit der „jungen Wilden“ um Hinkel, Kuranyi oder Hildebrand. Damals war klar: Wer beim VfB in der A-Jugend glänzt, der kommt auch bei den Profis zum Zug. Warum funktioniert das so nicht mehr?
Es gab eine Phase, da hatte der Verein finanzielle Schwierigkeiten und war gezwungen, junge Spieler einzusetzen – und diese Spieler haben dann ihre Klasse unter Beweis gestellt. Aktuell haben wir zwei U-19-Spieler, die zu Kurzeinsätzen bei den Profis gekommen sind. Dazu zwei U-19-Spieler, die fester Bestandteil in der U-21-Regionalliga-Mannschaft sind. In der letzten Saison bestand ein Drittel unseres Kaders aus Spielern, die beim VfB ausgebildet wurden. Gentner, Gomez, Didavi, Baumgartl, Beck, Özcan zum Beispiel. Das ist eine Menge. Und wir werden weiter alles daran setzen, nicht nachzulassen.

Wie das bei Hertha BSC der Fall ist.
Ja, Hertha leistet gute Arbeit. Das Erfreuliche ist ja, dass es im deutschen Jugendfußball keine Dominanz eines Vereins gibt, wie das in der Bundesliga der Fall ist. Viele Leistungszentren arbeiten auf ähnlich hohem Niveau. Obwohl Leipzig und die beiden Top-Klubs Bayern und Dortmund sehr viel in den Nachwuchs investieren, hat sich das im sportlichen Erfolg noch nicht in dem Ausmaß gezeigt, wie bei den Profis. Für manche Jugendliche, deren Familien und Wegbegleiter ist Geld aber ein starker Antrieb. Sie verstehen nicht, dass sie vielleicht erstmal verzichten müssen, wenn sie eine gute Ausbildung genießen wollen. Sie stecken in einem brutalen Spannungsfeld.

Inwiefern?
Ich habe das in Gesprächen erlebt: Da sitzen Eltern, die haben Not – Geldnot. Und der Sohn sitzt da und weiß, er soll möglichst schnell etwas hinzuverdienen. Er hat nicht im Kopf, dass ein Umzug seiner Entwicklung schaden könnte und er deshalb eher noch ein paar Jahre warten sollte.

Von welchen Summen sprechen wir da, zum Beispiel, wenn man ein halbwegs talentierter U-19-Spieler beim VfB ist?
Uns ist wichtig, dass es gerecht zugeht, damit kein Neid aufkommt. Die Summen, die wir zahlen, bewegen sich in einem vernünftigen Rahmen, aber...

Ja?
Das versteht und akzeptiert auch nicht jeder. Für diese Jugendspieler sind wir dann vielleicht nicht die richtige Adresse.

Bekommt beim VfB in der Jugend jeder dasselbe oder geht es eher nach Leistung?
Es gibt vereinzelt Unterschiede, die allerdings sehr gering sind. Trotzdem müssen wir relativ früh festlegen, wem wir mehr zutrauen. Entsprechend erhalten manche längerfristigere Verträge.

Das WM-Debakel hat auch eine Debatte um den deutschen Nachwuchsfußball befördert. In der Ausbildung solle wieder mehr Wert auf individuelle Fähigkeiten, auf Charakter gelegt werden. Was hat sich seither getan?
Dafür ist der Zeitraum noch zu kurz. Meine Beobachtung ist: Weil die Nachwuchsleistungszentren miteinander konkurrieren, überbieten sie sich, den Spielern einen noch besseren Service zu bieten. Und die Berater haben auch Konkurrenz, das heißt, sie bieten den Spielern ebenfalls guten Service. Wenn das mit 14, 15 oder 16 losgeht, dann gewöhnen sich die Kinder daran, sich um kaum etwas selbst kümmern zu müssen, weil sie ja immer einen „Dienstleister“ an ihrer Seite haben. Die Jungs sind zwar „nur“ Talente, von denen keiner weiß, ob es zum Bundesliga-Spieler reicht, aber sie werden vorsorglich gehegt und gepflegt. Dadurch verlernen manche die einfachsten Dinge im Leben – und das hat auch Auswirkungen aufs Fußballspielen, davon bin ich zutiefst überzeugt. Also...

...besser wieder die Schuhe selber putzen?
Wir sollten einfach wieder versuchen, die Selbstständigkeit zu fördern und nicht davor zurückschrecken, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie unangenehm ist. Fürsorge und Wertschätzung sind wichtig, aber dazu muss man auch die Probleme benennen. Oft ist es ja so: Die Jungs kommen mit einem Berater an, vielleicht mit einem Schuhvertrag von einem Sponsor, weil der auch das Talent sieht. Und wir Vereine denken auch, wir tun den Jungs einen Gefallen, wenn wir alles für sie planen, so dass sie nur noch erscheinen und Leistung bringen müssen. Und dann fällt mal die S-Bahn aus – und keiner weiß mehr weiter.

Thomas Hitzlsperger, 36, wurde 2007 mit dem VfB Stuttgart Deutscher Meister. Seit Dezember 2017 leitet er als Direktor das Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) des Klubs.

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