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Bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles wurde Merlene Ottey (links) über 100 und 200 Meter Dritte.

© imago sportfotodienst

Frühere Weltklassesprinterin wird 60: Andere kamen und gingen - nur Merlene Ottey blieb

Die Sprinterin aus Jamaika zählte lange zur Weltspitze. Heute feiert sie Geburtstag. Eine Erinnerung.

Im engen, roten Satinkleid sitzt sie an der Haltestelle. So als wolle sie zum Abschlussball und käme nicht gerade von einem simplen Interview, wie es so viele in ihrer Karriere gegeben hat.

Merlene Ottey, die neunfache Olympia-Medaillengewinnerin, die einst überlebensgroß von Häuserfassaden und Plakatwänden herabschaute. Die oft mit Schmuck und Armbanduhr lief und die meisten Konkurrentinnen hinter sich ließ, wartet auf den Bus, der sie zurück in die Innenstadt von Zug bringen soll.

Fast drei Jahre ist das her. Wir hatten uns zuvor zu einem Interview getroffen in ihrem Schweizer Wohnort, im Konferenzraum eines Hotels, das zwar den Charme eines Studentenwohnheims versprühte, in dem die Flasche Mineralwasser aber dennoch umgerechnet 30 Euro kostete.

Zur Begrüßung schien sie noch fast schüchtern, als das Aufnahmegerät lief, war sie jedoch in ihrem Element und wirkte wieder so locker wie in den Interviews, die man von ihr kannte.

Kaum eine Sprinterin hat die Leichtathletik so geprägt wie sie. Bei sieben Olympischen Spielen gewann die Jamaikanerin neun Medaillen. Sie hat eine Weltkarriere hingelegt. „Und das alles nur dank dieser schönen, schnellen Beine“, sagte sie damals und grinste.

Über ein Vierteljahrhundert lief sie in der Weltspitze. Bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau gewann sie mit 20 Jahren Bronze über 200 Meter und war damit die erste Medaillengewinnerin ihres Landes. Wegen ihres Aussehens und Auftretens wurde sie bald „Model in Motion“ genannt oder auch „Queen of the Track“.

Sie schien nie angestrengt

Wenn sie sprintete, schien sie nie angestrengt. Nach dem Zieleinlauf brach sie nicht erschöpft zusammen, wurde nur langsamer, um dann weiter zu schreiten, als sei sie mal eben eine Runde joggen gewesen.

Bald kam ein weiterer Beiname hinzu – „Bronze Queen“. Bei den Spielen von Los Angeles 1984 über die 100- und 200-Meter-Distanz wurde sie Dritte und auch in Barcelona 1992 über 200 Meter holte sie Bronze. Immer nur Dritte. 1996 in Atlanta holte sie dann jeweils Silber.

Stets war es eine andere Läuferin, die ihr das Gold vor der Nase wegschnappte: Mal die US-Sprinterinnen Gwen Torrence und Gail Devers, mal die Französin Marie-José Perec. Sie alle kamen, gewannen und gingen wieder. Nur Merlene Ottey blieb. Wenn auch ungekrönt.

Wäre es eine Frage des Geldes gewesen, hätte sie sich Olympiagold gekauft, sagte sie des Öfteren, halb im Scherz. Ihr größter Moment war wohl auch deshalb die WM 1993 in Stuttgart. Über 100 Meter hatte sie denkbar knapp gegen Devers verloren. Drei Tage später holte sie über 200 Meter ihr erstes Einzelgold. Nach ihrem Sieg gab es Standing Ovations von den Rängen. Minutenlang.

1999 kam ein Wendepunkt

Zur Jahrtausendwende kam auch für Ottey ein Wendepunkt in ihrer Laufbahn: 1999 geriet sie unter Doping-Verdacht, legte Widerspruch ein und wurde schließlich im Jahr darauf wegen mutmaßlicher Mängel des untersuchenden Labors freigesprochen.

Anschließend verpasste sie jedoch die Qualifikation über 100 Meter für die Olympischen Spiele in Sydney. Ottey forderte den jamaikanischen Verband auf, sie dennoch aufzustellen. Zahlreiche Teamkollegen sprachen sich gegen die 40-Jährige aus.

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Der Streit zog sich hin, bis das Internationale Olympische Komitee drohte, das gesamte Team auszuschließen. Ottey durfte daraufhin starten, gewann mit der Staffel Silber und wurde über 100 Meter Vierte. Sieben Jahre später, nachdem der US-Amerikanerin Marion Jones ihre Goldmedaille wegen Dopings nachträglich aberkannt worden war, kam Ottey nachträglich zu Bronze und ihrer neunten Olympia-Medaille.

Mit 52 Jahren, als sie längst für ihre Wahlheimat Slowenien startete, versuchte sie sich noch einmal vergeblich für Olympia 2012 in London zu qualifizieren. Eines Tages im Februar 2014 dachte sie beim Training plötzlich, „was mache ich hier bloß?“ Von da an, erzählte sie, habe sie nie mehr Spikes angezogen. Nicht einmal joggen war sie seitdem.

Als ich sie damals an der Bushaltestelle sitzen sah, bin ich aus dem Auto ausgestiegen und habe sie gefragt, ob ich sie mitnehmen solle. „Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd und sah auf ihr Handy: „Der Bus müsste gleich kommen.“ – „Ganz wie Sie wollen“, sagte ich. In diesem Moment bog der Bus um die Ecke. „Zu spät“, sagte sie und stieg ein.

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