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Nikolai Kornhaß (weißer Anzug) reiste als Favorit an und verpasste eine Medaille.

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Enttäuschte Judokas nach Paralympics: „Es gab viel Trost – wir sind einfach eine große Familie“

Para-Judo-Bundestrainerin Carmen Bruckmann über das medaillenlose Abschneiden, Plexiglasscheiben beim Essen und die heiligen Judohallen in Tokio.

Frau Bruckmann, Tokio gilt als Heimat des Kampfsports Judo. In einem Interview hatten Sie vor den Paralympics beschrieben, dass es eine ganz besondere Bedeutung habe, in den heiligen Hallen vor Ort anzutreten. Wie haben Sie die Auftritte erlebt?

Die Kodokas, sozusagen die Mutterhäuser des Judos, sind durchaus sehr besonders. Für unsere Sportlerinnen und Sportler war die Ehrfurcht aber nicht mehr ganz so groß, wir waren schon häufig in Japan, um zu trainieren. In der Wettkampfstätte selbst haben wir aber tatsächlich noch nicht gekämpft. Es ist sehr schade, dass keine Zuschauenden dabei sein konnten, denn es ist wirklich eine beeindruckende Halle. Schon alleine das Gebäude ist der Wahnsinn!

„Bei Nikolai Kornhaß fehlt uns eigentlich nichts, außer Glück“, sagten Sie vor den Spielen. Als Bronzeträger in Rio und aktueller Weltranglistenerster standen die Aussichten gut. Warum reichte es nicht zu einer Medaille?

Genau das Quäntchen hat gefehlt. Und zwar bei allen Sportlerinnen und Sportlern. Wir werden natürlich erst in der ausführlichen Nachbereitung im Detail analysieren, wo die Schwierigkeiten und Fehler lagen. Im Judo sind es jedoch oftmals kurze, schnelle Situationen. Gerade auf diesem professionellen Niveau ist ein Sieg nie garantiert.

Oliver Upmann hatte Chancen auf Bronze. Wie groß war der Druck auf ihn als letzter Antretender der deutschen Judomannschaft?

Ich glaube, den meisten Druck hat sich Olli selbst gemacht. Als Fünfter und Neunter bei vorangegangenen Spielen hatte er einen enormen Ehrgeiz. Er hat wirklich sehr hart in der Vorbereitung gearbeitet, das war beeindruckend. Gleichzeitig muss ich sagen, dass ein fünfter Platz auch in diesem Jahr wieder natürlich eine super Leistung ist. Gerade Para-Judo hat sich in den letzten Jahren zu einer Hochleistungssportart auf internationaler Ebene entwickelt. Aktuell tröstet ihn das noch wenig, aber mit etwas Abstand muss ich jetzt schon sagen, dass er Großartiges geleistet hat.

Wie verarbeiten die Sportlerinnen und Sportler aktuell ihre Erlebnisse aus Tokio?

Ich glaube, es ist bei allen noch sehr schwierig. Die Kämpfe sind nicht lange vorbei und die Enttäuschung ist sehr frisch. Jeder Einzelne tritt mit dem Bewusstsein an: Ich kann gewinnen, ich will gewinnen, ich werde gewinnen. Gerade bei solch großen Erfolgsaussichten sind wir natürlich alle, Trainerinnen und Trainer, sowie das Betreuerteam erst einmal niedergeschlagen.

Welche Schwierigkeiten gab es in der Vorbereitung auf die Spiele in diesem Jahr?

Als die Verschiebung der Spiele angekündigt wurde, war es für uns erst einmal sehr blöd. Wir befanden uns erfolgreich in den Vorbereitungen. Es war wirklich beeindruckend, wie schnell alle aus dem Team umgeplant haben: zwei Hochzeiten wurden vorgezogen, Kornhaß hat seine Bachelorarbeit geschrieben, kleine notwendige Operationen wurden angesetzt. Das hat mit der Planung dann schon gut geklappt. Aber gerade Judo lebt vom ständigen Partnerwechsel. Wir trainieren auf diesem Niveau ja mit den Sehenden. Das war nun alles sehr streng limitiert. Unter normalen Bedingungen sind wir auch global viel unterwegs. Nur so lernt man verschiedene Techniken, Strategien, Herangehensweisen. Natürlich war das für die meisten Nationen schwierig. Ich muss aber schon sagen, dass der Trainingsbetrieb in Deutschland besonders eingeschränkt war. Einige Länder konnten ihre Vorbereitungen in einem deutlich normaleren Modus fortführen. Auch im Dopingbereich habe ich bedenken, dass einige Nationen die Zeit „sinnvoll genutzt“ haben – in ihrem Sinne. Es gab hier, soweit mein Eindruck, weltweit deutlich weniger Kontrollen.

Was nehmen Sie aus den diesjährigen Paralympics mit?

Wir brauchen alle erst einmal ein wenig Abstand. Danach wird es eine individuelle Analyse mit allen Athletinnen und Athleten geben.

Wie empfanden Sie ganz allgemein die Spiele im Vergleich zu vorangegangenen?

Es waren jetzt meine fünften Paralympics. Der größte Unterschied liegt auf jeden Fall im Fehlen der Zuschauenden. Freunde, Familie und Fans können nicht vor Ort dabei sein. Aber auch das Abstandhalten im Dorf macht die Situation nicht einfach. Social Distancing ist überall präsent. Am extremsten ist mir die Essenssituation in Erinnerung geblieben. Wir saßen im Essenszelt mit Plexiglasscheiben um uns herum, gegenüber und rechts und links von uns. Es fühlt sich an, als esse man in einer Wahlkabine. So kann man sich nicht mit Mannschaftskolleginnen und -kollegen unterhalten geschweige denn mit Sportlerinnen und Sportlern anderer Nationen und Disziplinen. Diese Interdisziplinarität vermisse ich in jedem Fall sehr. Unter normalen Umständen müssen wir auch nicht sofort ausreisen, sodass ich mich dann in Schwimmwettkämpfe setze, Goalballmatches miterlebe oder bei anderen Sportveranstaltungen mitfiebere. Gerade da wir im Judo immer sehr früh an der Reihe sind, genieße ich das richtig. Dass wir die Stadt und das Umland in Japan nicht besichtigen konnten, ist da das kleinere Übel. Wir waren schließlich schon häufiger hier.

Bundestrainerin Carmen Bruckmann schaut bei den Wettkämpfen zu.
Bundestrainerin Carmen Bruckmann schaut bei den Wettkämpfen zu.

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Die Zwillinge Carmen und Ramona Brussig haben bereits ein halbes Jahr in Tokio gelebt. Was hatte das für einen Einfluss?

Dadurch, dass wir alle sehr regelmäßig in Japan trainieren, haben sie nicht viele neue Eindrücke für das Training mitgebracht. Vielmehr haben sie sich auf kultureller Ebene eingelebt. Gewohnt haben sie in einer Stadt ein wenig außerhalb von Tokio. Die beiden verstehen auch sehr gut Japanisch, zumindest von Carmen weiß ich auch sicher, dass sie fleißig die Sprache lernt und auch sprechen kann. Sie haben auch viele Kontakte geknüpft und Freundschaften geschlossen. Es war entsprechend schade, dass wir diese aufgrund der Hygienemaßnahmen nicht besuchen konnten.

Für die Zwillinge waren es wohl die letzten Paralympics. Gibt es schon Pläne für die Zeit danach?

Als sehr erfolgreiche Athletinnen haben sie sich bislang auf den aktiven Sportbetrieb fokussiert. Da bleiben wenige Kapazitäten, um sich über die Zeit „danach“ Gedanken zu machen. Ramona aber absolviert gerade schon eine Trainerausbildung. Ich hoffe auf jeden Fall, dass die beiden hier ihre Wege weitergehen. Da habe ich auch keine großen Bedenken. Die beiden leben den Sport und werden ihm erhalten bleiben. In Frage steht aktuell nur noch in welcher Form.

Wie geht es für Sie und Ihre Athletinnen und Athletinnen nun in Deutschland weiter?

Wir werden die Spiele nun aufarbeiten. Dabei möchte ich dem ganzen Verband schon jetzt danken. Gerade komme ich aus einem Telefonat mit einem weiteren Trainer. Und ich kann festhalten: Medaillen beschmückt nach Hause zu kommen, ist ein Leichtes. Da ist man bereits euphorisiert, kann die Erfolge feiern. Aufgrund der Niederlagen ist mir aber in diesem Jahr aufgefallen, wie stark der Rückhalt bei uns tatsächlich ist. Wir haben durchweg viel Trost, Zuneigung und Unterstützung erhalten. Für mich als Trainerin ebenso wie für die Sportlerinnen und Sportler waren die Wettkampfergebnisse wirklich nicht leicht zu verkraften. Aber die Unterstützung durch die Bank weg, vom Ärzteteam, von den Helfenden, den Hauptamtlichen in der Geschäftsstelle, machen es leichter den Schmerz und die Enttäuschung zu verarbeiten. Wir sind einfach eine große Familie.

Dieses Interview ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.

Lilith Diringer

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