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Vor dem Spiel gegen Deutschland will Southgate den Fokus auf die Gegenwart und Zukunft lenken.

© REUTERS

Die alte Rivalität mit Deutschland wird immer unwichtiger: Englands Mannschaft will nach vorne schauen

England ist ein echter Mitfavorit bei der EM geworden. Mit einem Sieg gegen Deutschland hätten sie die Chance, um den ersten Titel seit 1966 zu kämpfen.

Ein Vierteljahrhundert und drei Tage. So lange ist es her, dass Deutschland zum letzten Mal ein Turnierspiel gegen England im Wembley-Stadion bestritt. So lange ist es her, dass Gareth Southgate im Elfmeterschießen den entscheidenden Strafstoß verballerte, und damit zur tragischen Figur und Lachnummer der Insel wurde.

Die Welt war damals eine ganz andere. Im Vereinigten Königreich gab es zum Beispiel etwa 400 Filialen eines beliebten Pizza-Ladens, für den Southgate später Werbung machte. Heute sind es nur noch 260. Im TV-Spot von damals geht Southgate mit einer Papiertüte über dem Kopf ins Restaurant, weil er sich für seinen Fehlschuss derart schämt.

Seine Teamkollegen Stuart Pearce und Chris Waddle, die 1990 ebenfalls Elfmeter gegen Deutschland verschossen hatten, lachen ihn dabei aus. Am Ende läuft ein lächelnder Southgate aus Versehen gegen eine Wand. Das kennen wir ja, diesen ausgefeilten britischen Humor.

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Fünfundzwanzig Jahre und drei Tage später hat Southgate nun die Chance, den Fehlschuss und die blöde Pizza-Werbung endlich vergessen zu machen. Denn am Dienstag trifft England schon wieder bei einer EM im Wembley-Stadion auf Deutschland (18.00 Uhr, ARD). Dieses Mal geht es um einen Platz im Viertelfinale, und für den heute 50 Jahre alten englischen Nationaltrainer vielleicht auch ein bisschen um Rache.

Kein Grundstein der Fußball-Identität

Dabei sieht es Southgate selbst eher nicht so. Vor dem Spiel gegen Deutschland hat er vor allem versucht, den Fokus weg von seinem eigenen Hintergrund und auf die Gegenwart und die Zukunft zu lenken. Für seine Spieler sei die Geschichte ohnehin „irrelevant“, sagte er am Wochenende.

Da hat er wohl auch Recht. Auf einer Pressekonferenz wurde Englands Mittelfeldregisseur Jordan Henderson zuletzt zum damaligen Pizza-Spot gefragt. Er kannte ihn nicht, hatte ihn nie gesehen, und hatte keine Ahnung, wovon der Fragesteller redete. Dabei ist Henderson mit 31 Jahren einer der wenigen Spieler in dieser englischen Mannschaft, die sich an 1996 erinnern können.

Für viele andere ist die EM von damals praktisch Fußball-Antike, und die alte Rivalität mit den Deutschen zunehmend unwichtig. Jude Bellingham, der heute bei Borussia Dortmund spielt, war sechs Jahre alt, als England 2010 zum letzten Mal bei einem großen Turnier gegen Deutschland spielte.

Bei den vorigen Duellen in den Jahren 2000 und 1996 war er noch nicht einmal geboren. Für seine Generation sind Niederlagen gegen Deutschland nicht mehr ein Grundstein der englischen Fußball-Identität. „Unsere Albträume sind nicht ihre Albträume“, schrieb der Fußballkorrespondent der „Mail on Sunday“.

Kluft zwischen Fans und Mannschaft

Nicht zum ersten Mal bei diesem Turnier gibt es hier eine Kluft zwischen der Mannschaft und den Fans. Denn im Wembley wird – zumindest für eine laute Minderheit – die Geschichte alles andere als irrelevant sein. Auf den Rängen wird es einige geben, die von deutschen Bombern singen, und viele, die vor dem Spiel an 1996 oder 1990 denken. Als kulturelles Phänomen ist der Fußball schließlich eine Übung in Nostalgie.

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Auf dem Platz bleibt es aber ein Spiel, in dem man immer nach vorne schauen und sich immer wieder aufs Neue beweisen muss. Mit ihrer Vielfalt und ihrer politischen Courage hat diese Mannschaft schon mehrmals bewiesen, dass sie für mehr steht als den alten, stumpfen Patriotismus.

Nun muss sie auch auf dem Platz zeigen, dass sie Zukunft kann. „Diese Mannschaft hat in den letzten Jahren einige historische Leistungen gebracht. Die Spieler haben ihre eigene Geschichte geschrieben, und so sollten sie auch dieses Spiel sehen“, sagte Southgate vor dem Achtelfinale. „Es ist eine Gelegenheit.“

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Auch für Southgate ist es eine Riesenchance, die entsprechend auch ihre Risiken in sich birgt. Denn unabhängig von seiner persönlichen Vorgeschichte mit Deutschland hat dieses Spiel auch für seine Karriere als Trainer einen wegweisenden Charakter. Für den Erfolg der letzten Jahre und die neue, positive Stimmung um die Nationalmannschaft wurde er oft zu Recht gelobt, doch so langsam steigen die Erwartungen.

Erster Titel seit 1966?

Schließlich ist England jetzt nicht mehr Geheim-, sondern auch echter Mitfavorit bei dieser EM. Nach dem Ausscheiden der Niederlande sind England und Deutschland nun mit Abstand die größten Fußballnationen in ihrer Hälfte des Turnierbaums. Mit einem Sieg am Dienstag hätten die Engländer beste Chancen, es bis ins Finale zu schaffen und damit im heimischen Stadion um den ersten Titel seit 1966 zu kämpfen.

Eine Niederlage wäre für Southgate nicht gleich ein Desaster. Wie die FA vor einigen Tagen mitteilte, wird der Nationaltrainer ohnehin bis zur WM 2022 im Amt bleiben. Doch 25 Jahren nach seinem Fehlschuss im Elfmeterschießen wäre es wieder eine verpasste Chance. Sollte er erneut im Wembley-Stadion an den Deutschen scheitern, wäre es vor allem ein Sieg der Vergangenheit über die Zukunft.

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