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Selfie mit Gott. Die Aufregung um Neymar hat das ganze Land erfasst.

© AFP

WM 2014 - Brasilien gegen Kolumbien: Ein ganzes Land hofft auf Neymar

Mehr Fußball, weniger Emotionen, fordert Brasiliens Trainer Luis Felipe Scolari. Gar nicht so leicht, wenn selbst die Spieler auf dem Platz weinen. Und das Volk rast natürlich auch vor dem Spiel gegen Kolumbien.

Neymar hat den Bart sprießen lassen, was in Kombination mit seinem blauen Mützchen eher lustig denn bedrohlich wirkt, aber er ist ja auch nicht gekommen, um das Volk zu erschrecken, ganz im Gegenteil. „Alles ist in Ordnung, macht euch keine Sorgen um mich“, sagt der Mann, um den sich seit Tagen so ziemlich alle Brasilianer sorgen. Jedenfalls die, die sich für Fußball interessieren und ihr seelisches Befinden mit dem Erfolg der Seleçao brasileira verknüpft haben. Sie sitzen in den Bars und Cafés von Rio, Sao Paulo oder Belo Horizonte und gut 1500 von ihnen stehen draußen vor den Toren des Mannschaftsquartiers in Teresopolis und warten darauf, dass der Bus mit ihren Helden kommt.

Am vergangenen Samstag hat die Nation so schwer gelitten wie lange nicht mehr. 120 Minuten plus Elfmeterschießen. Neymar hat sie am Ende erlöst mit seinem finalen Elfmeter gegen Chile. Aber weil er danach kaum noch einen Schritt tun konnte und der Gang zum Mannschaftsbus eine echte Herausforderung war, befand sich Brasilien zuletzt im Zustand einer doch sehr angespannten Erleichterung. Ein Glück, dass es geklappt hat mit dem Viertelfinale. Aber was soll nur werden am Freitag in Fortaleza gegen Kolumbien, wenn Neymar nicht spielen kann?

Neymar lacht alle Sorgen mit Leichtigkeit weg

Neymar lacht alle Sorgen mit einer Leichtigkeit weg, wie er auf dem Platz auch jedes Problem umdribbelt. Ja, er hat ein paar Schläge abbekommen, „aber das gehört dazu, es war ein spannendes Spiel, und jetzt kommt das nächste“. Vier Tage nach dem Spiel gegen Chile ist es ein anderer Neymar, der vor dem Abflug nach Fortaleza vor die Kameras und Mikrofone tritt und um Vertrauen wirbt für das Projekt Hexacampeao, den fest eingeplanten Gewinn des sechsten WM-Titels. Am Samstag noch hatten die Kameras seine Tränen eingefangen und die von Julio Cesar. Der Torwart hatte sie schon vergossen, bevor es losging mit dem Elfmeterschießen, in dem er zum „Retter der Nation“ („O Globo“) aufstieg.

Die Nation hat sich gern retten lassen, aber sie hat sich auch ein wenig irritiert und besorgt gefragt, ob die vermeintlichen Retter nicht selbst gerettet werden müssen. Weil sie nervlich vielleicht überfordert sind mit der Aufgabe, die WM zu gewinnen und die Herzen der Landsleute. Im Zuge der öffentlichen Diskussion um überteuerte Stadien und mangelnde Investitionen in Gesundheit und Bildung war das Land des Fußballs vor der WM auf Distanz zum Fußball gegangen. Die Nationalmannschaft befand sich auf einmal in einem Prozess öffentlichen Liebesentzuges, beschleunigt noch durch die zunächst bescheidenen Leistungen, und das könnte schon aufs Gemüt gehen.

Begeisterung ist nur die besser gelaunte Schwester der Erwartung

Mit dem Drama von Belo Horizonte haben Volk und Mannschaft wieder so nah zueinander gefunden, als hätte es die Manifestaçoes, die gewaltigen Proteste gegen die WM, nie gegeben. Deswegen hat sich das Volk vor dem Abflug der Mannschaft zum Viertelfinale gegen Kolumbien auf den Weg in die Berge gemacht. Nach Teresopolis, 900 Höhenmeter, 150 000 Einwohner, umstellt von den Orgelbergen. Unter deren spektakulären Spitzen hat die Seleçao ihr WM-Camp aufgeschlagen.

Kaum einer der Wartenden, der nicht in Kanarienvogelgelb gekleidet ist. Die brasilianische Farbe der Hoffnung. Soldaten und Polizisten patrouillieren. Eine Gruppe stimmt die brasilianische Hymne an: Ich bin Brasilianer, mit viel Stolz, mit viel Liebe. Dann, endlich, öffnet sich das Tor. Meu Deus! Neymar! Ein Mädchen hält einen Zettel hoch: „David Luiz, you make me strong.“ Fußballgottesdienst. Die Götter sitzen hinter Vorhängen, sie tragen Kopfhörer und Sonnenbrillen. Nichts hören, nichts sehen, nichts an sich heranlassen. Sie wissen, dass Begeisterung, im Fußball vor allem, immer nur die besser gelaunte Schwester der Erwartung ist. Denn am Ende sind jene, die jetzt noch weinen vor Glück, auch jene, die schreien werden vor Wut.

"Niemand in der Mannschaft hat ein emotionales Problem"

In diesem Sinne war auch Brasiliens Luiz Felipe Scolari zu verstehen mit seiner Mahnung, er wünsche sich ein bisschen mehr Fußball und ein bisschen weniger Emotion. Neymars Antwort darauf fällt deutlich aus. „Niemand in der Mannschaft hat ein emotionales Problem“, aber Fußball sei nun mal ein Geschäft der Leidenschaft, und das sollen am Freitag in Fortaleza auch die Kolumbianer zu spüren bekommen. Es ist dies für Neymar eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit James Rodriguez. Kolumbiens Nummer zehn hat in vier WM-Spielen fünf Tore erzielt und damit eins mehr als Brasiliens Nummer zehn. „Er ist ein großartiger Spieler“, sagt Neymar, „aber ich denke, dass sein Zyklus am Freitag zu Ende geht.“

Als der Bus längst aus der Stadt gefahren ist, steht vor dem Tor des Trainingsgeländes noch eine Fernseh-Reporterin, sie richtet sich das Haar und sagt: „Jedes Mal sind mehr Sicherheitskräfte hier, jedes Mal mehr Fans. Die Euphorie wird größer.“ In Teresopolis klingt das fast wie eine Drohung.

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