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Einer für die engen Räume. Serge Gnabry (Mitte) ist kein typischer Strafraumstürmer, trifft aber wie einer.

© Reuters

Drei Tore beim 6:1 gegen Nordirland: Serge Gnabry ist mehr als ein Mittelstürmer

Serge Gnabry verkörpert wie kein Zweiter den Zustand der deutschen Nationalmannschaft: Mit Eifer und Talent lassen sich strukturelle Defizite kompensieren.

Man kann Pierre-Michel Lasogga nicht vorwerfen, dass er in den sozialen Medien ein überzogenes Selbstmarketing betreibt. Seit seinem Wechsel nach Katar im Sommer ist er eher spärlich auf Instagram unterwegs. Aber eins fällt auf, wenn man sich seine Posts anschaut. Im Hintergrund sind vor allem leere Sitzschalen zu sehen.

Lasogga, 27 Jahre alt, soll ganz gut verdienen bei Al-Arabi, seinem neuen Klub am Persischen Golf, aber das bezahlt er unter anderem mit einem rapiden Bedeutungsverlust. Lasogga hat auch andere Zeiten erlebt. Er war sogar noch eine große Nummer, als er beim HSV spielte und quasi per definitionem schon gar keine große Nummer mehr sein konnte. Das liegt daran, dass Lasogga das letzte lebende Exemplar unter 30 aus der Spezies „Strafraumstürmer mit deutschem Pass“ ist.

Pierre-Michel Lasogga hätte am Dienstagabend, im EM-Qualifikationsspiel gegen Nordirland, bestimmt für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft getroffen, wenn er sich nach knapp einer Stunde in jener Position befunden hätte, die stattdessen Serge Gnabry einnahm. Von der linken Seite kam eine Flanke an den nordirischen Fünfmeterraum, Gnabry stand völlig frei, er begab sich in die Luft, erwischte den Ball mit der Stirn und setzte ihn am Pfosten vorbei.

Lasogga wird im kommenden Sommer trotzdem nicht bei der EM für die deutsche Nationalmannschaft auflaufen. Und sehr wahrscheinlich auch keiner seiner Artgenossen. Mangels geeigneter Kandidaten wird die Nationalmannschaft erstmals ohne eine echte Nummer neun zu einem großen Turnier fahren. Dafür steht Serge Gnabry ganz sicher im Aufgebot von Bundestrainer Joachim Löw. Um die Torgefahr der Nationalmannschaft muss man sich also erst einmal keine Sorgen machen.

So gut war nur Gerd Müller

Dreizehn Länderspiele hat der 24 Jahre alte Münchner bisher bestritten, am Dienstag beim 6:1 gegen Nordirland gelangen ihm seine Tore elf, zwölf und dreizehn für die Nationalmannschaft. Besser war in den vergangenen 50 Jahren lediglich ein gewisser Gerd Müller, der Großvater aller deutschen Strafraumstürmer, der für seine ersten dreizehn Tore sogar nur zwölf Länderspiele benötigte. Aber allein im Länderspieljahr 2019 traf Gnabry bei acht Einsätzen neun Mal. „Von Serge halt ich sehr, sehr viel, und das nicht erst seit heute“, sagte Toni Kroos, „Er ist ein toller Spieler mit einem tollen Charakter. Deswegen bin ich mir sicher, dass er eine Riesenkarriere hinlegen wird.“

Die deutschen Länderspieltorschützen im Jahr 2019

Spieler Spiele Tore
Serge Gnabry 8 9
Leon Goretzka 6 5
Ilkay Gündogan 8 3
Toni Kroos 5 3
Marco Reus 7 3
Leroy Sané 4 3
Timo Werner 6 2
Julian Brandt 8 1
Matthias Ginter 6 1
Marcel Halstenberg 5 1
Kai Havertz 5 1
Nico Schulz 6 1

Gnabry verkörpert den Zustand der Nationalmannschaft im Herbst 2019 wie vielleicht kein Zweiter. Er steht einerseits für die strukturellen Defizite, mit denen der Bundestrainer zurechtkommen muss, andererseits für eine überragende Fülle an Talent. In welche Richtung es geht, das wird bei der EM in sieben Monaten die spannende Frage sein. „Das weiß ich auch nicht“, sagte Kroos, einer der letzten verbliebenen Routiniers der Nationalmannschaft. „Das werden wir sehen, wenn die Gegner kommen, die es zu schlagen gilt, um etwas zu erreichen. Das waren definitiv nicht die beiden jetzt aus dem November.“

Gegen die beiden aus dem November – Weißrussland und Nordirland – erzielten die Deutschen immerhin zehn Tore, weswegen die Stimmung rund um die Nationalmannschaft nun wieder optimistisch bis euphorisch ist. „So langsam kommen wir in Fahrt“, sagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka, der zwei Tore zum Sieg gegen die Nordiren beigesteuert hatte. „Wir wollten Deutschland ein bisschen wachrütteln, dass wir da sind.“

Die junge Mannschaft hat in guten Momenten durchaus etwas Mitreißendes. Mit ihrem Eifer und ihrem jugendlichen Elan ist sie in der Lage, ihre Defizite zum Beispiel in der Abwehr, auf den Außenverteidigerpositionen oder im Sturm zu überspielen. Bestes Beispiel ist Serge Gnabry, der eben kein geborener Strafraumstürmer ist, der aber immer besser in diese Rolle hineinwächst. „Im Abschluss ist er technisch wirklich überragend gut“, sagte Löw.

Gnabry habe "großartige Qualitäten", sagt der Bundestrainer

Den Ausgleich zum 1:1 hätte vermutlich selbst Gerd Müller kaum besser hinbekommen. Gnabry nahm ein Zuspiel mit links so an, dass der Ball noch einmal auftippte, um ihn dann mit rechts, aus der Drehung und volley in den Winkel zu jagen. „Das sind bewusste Tore“, erklärte der Bundestrainer. „Er legt sich die Bälle richtig zurecht.“ Gnabrys zweiter Treffer verlief nach dem gleichen Prinzip: Annahme mit links, den Ball aufspringen lassen, Abschluss mit rechts – und alles in einer fließenden Bewegung. „Großartige Qualitäten“ bescheinigte Löw dem Offensivspieler des FC Bayern.

Und trotzdem wird es vermutlich auch in den nächsten Monaten wieder Momente geben, in denen bei der Nationalmannschaft das Fehlen echter Stoßstürmer und die mangelnde Präsenz im gegnerischen Strafraum beklagt werden wird. Die Frage aber ist, ob die Qualitäten, die ein Typ wie Gnabry mitbringt, nicht deutlich wertvoller sind. „Ich habe immer schon gesagt, dass er für die Mannschaft extrem wichtig ist“, erklärte Löw. Gnabry sei Anspielstation, verarbeite die Bälle super, lasse sich aber auch mal fallen, um Platz zu schaffen für andere und stoße dann selbst wieder in die Spitze. „Er stellt verschiedene Ebenen her“, sagte der Bundestrainer. „Das macht ihn so wertvoll für uns.“

Dass er Pierre-Michel Lasogga im Kopfballspiel unterlegen ist, lässt sich unter solchen Umständen gerade noch verkraften.

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