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Jubeltraube mit Superstar. Lionel Messi feierte am Ende ausgelassen mit seinen Teamkollegen.

© IMAGO/Moritz Mueller

Dramatisches WM-Viertelfinale: Wie Argentinien Holland am Ende doch niederrang

Lange Zeit sieht Argentinien wie der sichere Sieger aus, weil Lionel Messi einmal mehr überragt. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse.

Das WM-Viertelfinale zwischen Argentinien und Holland war ein Spiel wie eine vielstaffelige Netflix-Serie, in der die Dramaturgie irgendwann nur noch durch Absurditäten vorangetrieben wird. In der 73. Minute ist es eigentlich gelaufen. Lionel Messi hat per Elfmeter das 2:0 erzielt, nachdem Denzel Dumfries recht ungestüm Marcos Acuña an der rechten Strafraumecke die Beine weggezogen hat.

Messis Strafstoß in die rechte Ecke wirkt wie ein klares Statement, dass der Superstar dieses Spiel nun offiziell für entschieden erklärt. Seit der Pause bekommen die Niederländer kaum noch Struktur in ihre Angriffe. Nachdem sie sich bislang zwar mit großem Selbstbewusstsein, aber ohne viel Aufwand durch dieses Turnier laviert haben, scheint ihnen die Situation, seit der 35. Minute einem Rückstand nachzulaufen und selbst das Spiel machen zu müssen, eigenartig fremd.

Argentiniens Coach Lionel Scaloni hat seine Startelf nach dem Achtelfinalsieg gegen Australien verändert und bringt mit Lisandro Martinez einen weiteren Defensivspieler. Der Abwehrriegel um Nicolas Otamendi leistet bis zum Elfmetertor von Messi ganze Arbeit. Zeitweise wirkt es fast, als seien die Holländer ein Mann weniger auf dem Platz, so uninspiriert tragen sie ihre Angriffe vor.

Messi bereitet das 1:0 vor und erzielt das 2:0 selbst

Auf der Pressetribüne beginnen in dieser 73. Minute also viele Journalisten, bereits ihre Huldigungen auf Lionel Messi zu verfassen. Einmal mehr ist es ihm bei dieser WM fast im Alleingang gelungen, zum Matchwinner zu werden. Er spielt wie im Rausch. Lässt mehrfach mit einer abrupten Körperdrehung drei Niederländer auf einmal stehen. Seine raumgreifenden Pässe in die Tiefe kreieren aus vermeintlich banalen Spielsituationen immer wieder Torchancen. Manchmal scheint es fast, dass selbst seine Mitspieler von Messis Geniestreichen überrascht werden.

In der 35. Minute jedoch hat Nahuel Molina aufgepasst, als Messi im rechten Mittelfeld antritt, von Nathan Aké nicht ausreichend gestört werden kann und den Ball plötzlich aus vollem Lauf mit einem Diagonalpass auf den an der Strafraumgrenze startenden Molina durchsteckt, der unhaltbar für Andries Noppert in der linken Ecke einschießt.

Die nächste Wendung. Wout Weghorst (links) schickt das Spiel in die Verlängerung.
Die nächste Wendung. Wout Weghorst (links) schickt das Spiel in die Verlängerung.

© dpa/Ariel Schalit

Es ist eine dieser Szenen, in denen Messi Erinnerungen an Diego Maradona bei der WM 1986 weckt, als der Göttliche ein sachlich agierendes Team aus Argentinien mit etlichen Geistesblitzen veredelte und schließlich zum Weltmeister machte. Als Messi in der 73. Minute per Elfmeter sein viertes Tor bei dieser WM erzielt, scheint die Mannschaft von Louis van Gaal mit ihrem Latein am Ende.

Schon jetzt ist es ein umkämpftes Spiel, in dem der spanische Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz insgesamt 15 Gelbe Karten zeigen wird. In der Schlussphase begeben sich die Teams regelrecht in den Infight. Lionel Scaloni will den Sieg mit weiteren Defensivkräften absichern. Doch Leandro Paredes, Nicolas Tagliafico und German Pezzella erweisen sich als Zerstörer, die zwar den Abwehrriegel verstärken, aber auch das letzte Fünkchen Spielkultur auf argentinischer Seite vorübergehend abtöten.

Der eingewechselte Wout Weghorst bringt Holland zurück

Hollands Trainer Louis van Gaal hingegen bleibt keine Wahl: Nachdem er zuvor schon Luuk de Jong (1,89 Meter) ins Sturmzentrum eingewechselt hat, bringt er nun auch Wout Weghorst (1,97 Meter). Der Ex-Wolfsburger hat bereits von der Bank aus signalisiert, wie engagiert er dieses Spiel miterlebt. Kurz vor der Pause sieht er dort Gelb wegen Meckerns. Seine Einwechslung jedoch ist für die Elftal wie das Signal zum Gegenangriff. Bislang sind die Niederländer um einen geordneten Spielaufbau bemüht. Mit den beiden hochgewachsenen Angreifern vorne drin korrigiert das Team seinen Stil und setzt nun auf ein Kick and Rush, das Argentinien sichtlich überfordert.

In der 83. Minute köpft Weghorst nach einer Flanke von Steven Berghuis ein. Sein Gegenspieler Leandro Martinez ist schlichtweg zu klein, um den Niederländer am 1:2-Anschlusstreffer zu hindern. In der Nachspielzeit geht das Match in eine offene Feldschlacht über, in der die Statistiker kaum noch nachkommen, die zahlreichen Verwarnungen zu zählen, die Referee Lahoz nun gegen argentinische Spieler aussprechen muss.

Selbst der Ästhet Messi handelt sich nach einem hitzigen Wortgefecht eine Gelbe Karte ein. Leandro Paredes kann von Glück sagen, dass er nicht vom Platz gestellt wird, als er aufgepeitscht von den Scharmützeln kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit aus fünf Metern Entfernung den Ball aus vollem Lauf in die niederländische Bank schießt, was zu schweren Tumulten an der Außenlinie führt.

In der letzten Aktion der zehnminütigen Nachspielzeit bekommen die Niederländer einen letzten Freistoß vor der Strafraumgrenze zugesprochen. Hollands Keeper Noppert weiß, das Spiel ist eigentlich zu Ende. Während der quälenden Minuten, die Argentinien braucht, um seine Mauer zu stellen, kauert er auf dem Boden knieend am Anstoßkreis und beobachtet das Schauspiel.

10
Tore hat Lionel Messi jetzt bei Weltmeisterschaften erzielt und damit mit Argentiniens Rekordschützen Gabriel Batistuta gleichgezogen.

Auf diesen Augenblick hat sich Cody Gakpo offenbar vorbereitet. Die argentinische Elf ist in Erwartung eines Direktschusses, zur Absicherung hat sich sogar ein Spieler hinter die Mauer auf den Boden gelegt. Doch Gakpo spielt den Ball flach in den Strafraum, wo sich Weghorst löst und aus der Drehung unhaltbar für Schlussmann Emiliano Martinez einschießt. 2:2.

Als der Unparteiische kurz darauf abpfeift und zur Verlängerung bittet, müssen sich die Teams inklusive des Trainerstabs aber erst einmal die Meinung sagen. Minutenlang steht ein großes Rudel auf dem Rasen, es wird geschubst, geschimpft und wild gestikuliert. Entsprechend giftig läuft auch die nächste halbe Stunde ab. Obwohl die Niederländer das Momentum auf ihrer Seite haben, gelingt es Lionel Messi einmal mehr, seine Mitspieler vom destruktiven Stil abzubringen, den sie nun schon seit geraumer Zeit zelebrieren, und wieder kreativ nach vorn zu arbeiten.

Ekstase pur. Lautaro Martinez hat soeben den entscheidenden Elfmeter verwandelt.
Ekstase pur. Lautaro Martinez hat soeben den entscheidenden Elfmeter verwandelt.

© imago/Agencia EFE

In der Verlängerung zieht Argentinien ein Powerplay auf, aus dem sich die „Elftal“ nicht mehr befreien kann. Einige Spieler sind nach der kräftezehrenden Aufholjagd und dem hohen Bedarf an Adrenalin in dieser am Siedepunkt brodelnden Partie offenbar kurz vor dem Kollaps.

Während auf dem Rasen die Holländer verzweifelt versuchen, sich ins Elfmeterschießen hinüberzuretten, kommt es auf der Pressetribüne zu einer Tragödie: Der amerikanische Journalist Grant Wahl hat eine Herzattacke. Minutenlang versuchen die Einsatzkräfte, den 48-Jährigen wiederzubeleben, doch für ihn kommt jede Hilfe zu spät. Wahl stirbt noch im Lusail Stadion, während unten auf dem Rasen die Teams zum Elfmeterschießen schreiten. Im Angesicht des menschlichen Dramas auf den Rängen wird das Geschehen auf dem Platz zumindest im Kollegenkreis zur Nebensache.

Auf der Pressetribüne stirbt der 48 Jahre alte US-Journalist Grant Wahl

Doch davon bekommen die 22 Spieler da unten nichts mit: Wie vor acht Jahren, als Argentinien und Holland im WM-Halbfinale aufeinandertrafen, unterliegt die „Oranje“-Elf auch diesmal im Shootout. Der Großteil der 88.235 Zuschauer ist in hellblau-weiße Trikots gewandet und stimmt ein gellendes Pfeifkonzert an, als die niederländischen Spieler zum Punkt schlendern. Keeper Fernandez heizt die aufgepeitschte Stimmung noch zusätzlich an, indem er vor jedem Elfmeter den Ball wegschießt oder versucht, den jeweiligen Schützen in ein Gespräch zu verwickeln. Virgil van Dijk und Steven Berghuis sind mit der Situation so überfordert, dass sie ihre Elfmeter vergeben.

Natürlich ist es Lionel Messi, der auf argentinischer Seite als erster antritt und mit einer derartigen Überzeugung seinen Ball versenkt, dass sich die launenhafte Dramaturgie dieses berauschenden Spiels nun ganz am Ende doch strafft und das Pendel für die Albiceleste ausschlagen lässt.

Van Gaal hat gesagt, dass sie guten Fußball spielen, aber was tut er: Bringt große Leute rein und lässt lange Bälle schlagen.

Lionel Messi über die Spielweise der Holländer

Der zuvor eher glücklose Lautaro Martinez behält beim entscheidenden Strafstoß die Nerven. Argentinien besiegt die Niederlande nach 2014 erneut im Elfmeterschießen und zieht ins Halbfinale gegen Kroatien ein. Die aufgeheizte Atmosphäre will auch nach der Entscheidung nicht abklingen. Denzel Dumfries muss von Mitspielern abgehalten werden, gegenüber einem Argentinier handgreiflich zu werden.

Einige Südamerikaner feiern schadenfreudig vor der niederländischen Bank. Auch Lionel Messi mischt mit. Offenbar hat er sich sehr darüber geärgert, dass Louis van Gaal sich vor Anpfiff despektierlich über die defensive Spielweise des Gegners geäußert und dem Kollegen Scaloni vorgeworfen hat, wohl „Angst“ vor der Elftal zu haben. „Van Gaal hat gesagt, dass sie guten Fußball spielen, aber was tut er: Bringt große Leute rein und lässt lange Bälle schlagen“, quittiert der schmächtige Genius nun direkt nach Spielschluss die Aussagen des Holländers, der nach der WM von Ronald Koeman als Bondscoach beerbt wird.

Dass selbst Lionel Messi von den Ereignissen derart elektrisiert ist, dass er sich zunächst nicht am Sieg erfreut, sondern auf Rache sinnt, zeigt, wie schlauchend dieses Viertelfinale für alle Beteiligten gewesen ist. Ein Spiel, das beweist, dass Argentinien nach einem schwachen Start ins Turnier inzwischen ein großes Zutrauen in die eigene Stärke gewonnen hat. Das allerdings auch zeigt, dass, egal, wie weit es die Albiceleste bei dieser WM bringen wird: Der Weg dorthin führt allein über den 35-jährigen Lionel Messi.

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