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 Sha’Carri Richardson jubelte vor wenigen Wochen noch bei den US-Trials. Nun aber darf sie bei Olympia nicht antreten.

© imago images/ZUMA Wire

Drama um US-Sprintstar Sha’Carri Richardson: „Marihuana kann einen leistungssteigernden Effekt haben“

Wegen Marihuana-Konsums ist Sprintstar Sha’Carri Richardson bei Olympia nicht dabei. Inwiefern steigert die Droge die Leistung? Ein Pharmakologe klärt auf.

Die Nachricht war erschütternd. Ihre leibliche Mutter war verstorben. Ein Reporter hatte es ihr während eines Interviews erzählt, in der Annahme, dass sie es schon wusste. Aber Sha’Carri Richardson, eine der schillerndsten Frauen in der Leichtathletik, hatte keine Ahnung. Die junge US-Amerikanerin verlor den Boden unter den Füßen. Der Zeitpunkt dafür war schlecht.

Ein paar Tage später schon stand der wichtigste sportliche Wettkampf in ihrem Leben an. Die US-Ausscheidungswettkämpfe für die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio. Der Druck war groß; Richardson war, wie sie später in einem TV-Interview erzählte, emotional am Ende. Um damit umgehen zu können, habe sie Marihuana geraucht. Kurz darauf erschien die 21-Jährige bei den Wettkämpfen im Juni in Oregon; mit ihren langen Fingernägeln und knallorangen Haaren jagte die nur 1,55 Meter große Frau die 100 Meter in einer Fabelzeit von 10,84 Sekunden hinunter. Die Konkurrentinnen blieben weit, weit zurück. Tokio konnte kommen.

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Doch vorher kamen die Dopingkontrollen. Richardson wurde positiv auf Marihuana getestet und darf nun nicht bei den Wettkämpfen in Japan antreten. Die Olympischen Spiele, die wegen der Corona-Maßnahmen ohnehin ziemliche Spaßbremsen zu drohen werden, haben ihren wohl hellsten Stern verloren. Das Duell zwischen der neuen Sprint-Sensation Richardson und der Jamaikanerin Shelly-Ann Fraser Pryce sollte ein Höhepunkt werden.

Nicht nur in den USA ist nun eine Debatte darüber entbrannt, ob es sinnvoll ist, dass Marihuana auf der Dopingliste steht. Zumal in vielen Ländern, zuletzt in Kanada, der Konsum von Marihuana legalisiert worden ist.

Der Nürnberger Pharmakologe Fritz Sörgel findet die jüngsten Vorkommnisse um die neue Wundersprinterin aus den USA höchst tragisch. Er sagt aber auch: „Marihuana kann indirekt einen leistungssteigernden Effekt haben.“ Doping sei nicht nur damit verbunden, beispielsweise den Sauerstoffgehalt im Blut zu steigern oder den Muskelaufbau etwa durch Testosteron zu fördern.

„Regeneration ist im Hochleistungssport enorm wichtig, und THC ist eine Substanz, die hier in jedem Fall helfen kann“, sagt Sörgel. „Es spielt ja längst auch in der Schulmedizin ein Rolle.“ Aus streng pharmakologischer Sicht ist es laut Sörgel durchaus richtig, Marihuana auf der Dopingliste der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada zu belassen.

Fritz Sörgel hält eine Legalisierung für Marihuana unter bestimmten Umsätzen für diskussionwürdig.
Fritz Sörgel hält eine Legalisierung für Marihuana unter bestimmten Umsätzen für diskussionwürdig.

© imago/Jürgen Heinrich

Der 70-Jährige findet aber auch, dass es sich hierbei um einen besonderen Fall handelt. „Natürlich muss man sich fragen, ob es Sinn macht, eine Substanz auf die Liste zu setzen, die in vielen Teilen der Gesellschaft erlaubt ist“, gibt er zu bedenken. Als Privatperson hatte auch Sha’Carri Richardson nichts Illegales getan. Im US-Bundesstaat Oregon, wo sie getestet worden war, ist der Konsum von Marihuana erlaubt. Als Sportlerin aber verstieß sie gegen die Regeln.

Trotz all der persönlichen Tragik ist für viele Beobachter der Szene unbegreiflich, warum Richardson so leichtsinnig ihren bislang größten sportlichen Wettbewerb aufs Spiel gesetzt hat. Sörgel etwa kann kaum glauben, dass die Sprinterin nicht wusste, dass Marihuana auf der Dopingliste steht: „Diese Ausrede wurde viel zu oft benutzt in der Vergangenheit.“ Vielmehr müsse man fragen, warum keine medizinische Ausnahmegenehmigung für einen Arzneistoff beantragt worden sei, der in der Trauerphase eingesetzt werden könne. Vermutlich war es Richardson in ihrer Verzweiflung schlicht egal, ob sie erwischt wird.

So oder so: In den USA empfinden die meisten die Strafe für Richardson – besonders unter den Umständen – als viel zu hart. Zumal mit Doping in erster Linie Substanzen assoziiert werden, die schneller, stärker oder ausdauernder machen. Nichts davon schafft der Konsum von Marihuana.

Einige Abgeordnete wie zum Beispiel die Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez sehen die Sperre gar als Beleg für systemischen Rassismus. Ocasio-Cortez appellierte an die Verbände, die Strafe aufzuheben. Der Fall Richardson ist sogar so groß, dass sich auch US-Präsident Joe Biden dazu äußerte. „Die Regeln sind nun einmal die Regeln“, befand er und bekam damit zumindest die Zustimmung aus der Welt des organisierten Sports.

Tatsächlich aber geht der Trend in immer größer werdenden Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft dahin, im Umgang mit Marihuana lockerer zu werden. Das spiegelt sich darin, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr US-Bundesstaaten den Marihuana-Konsum legalisiert haben. „Wenn der Sport gesellschaftlichen Trends folgen will, dann wird er sich wohl bald die Frage stellen müssen, ob Marihuana noch auf der Dopingliste stehen soll“, sagt auch der Pharmakologe Sörgel.

Für Sha’Carri Richardson kommt die Debatte zu spät. Die Regeln sind nun einmal die Regeln. Aber vielleicht hat die extrovertierte Sprinterin dazu beigetragen, dass Regeln manchmal auch dazu da sind, aufgehoben zu werden.

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