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Das englische Enfant terrible Paul Gascoigne (links, hier gegen Schottlands Gary McAllister) schoss bei der EM 1996 das wohl bekannteste Tor im Duell der alten Rivalen.

© Mary Evans/Imago

Die älteste Rivalität im Fußball: Die Schotten sind heiß auf England – auch in einem Weddinger Pub

Schottland ist noch punktlos und steht am Freitag in Wembley unter Druck. Londons Bürgermeister ist nicht gerade glücklich über die Besucher aus dem Norden.

Auch im Berliner Bezirk Wedding steigt die Spannung. Seit Tagen schon nimmt Fraser McCabe Reservierungen für Freitagabend entgegen. Der Wahlberliner stammt ursprünglich aus Dundee, betreibt aber seit einigen Jahren den schottischen Gastropub „Hirsch und Hase“ an der Voltastraße. Dort werden zahlreiche Berliner Schotten am Freitag aus der Ferne zuschauen, wenn ihre Mannschaft im zweiten Spiel der Gruppe D gegen den gehassten und geliebten Rivalen England antritt (21 Uhr, live im ZDF und bei Magenta TV).

„Wir sind schon völlig ausgebucht und erwarten mehr als 100 Gäste, was für uns recht viel ist“, sagt McCabe, dessen Telefon in den letzten Tagen fast durchgehend am Klingeln ist. Die meisten Reservierungen wurden zwar von Schotten gemacht, doch England-Fans seien auch willkommen. „Das Geld der Engländer ist schließlich genauso gut wie das von anderen Menschen“, lacht der Wirt, der ein 200-Liter-Ölfass zum Grill umgebaut hat, um das Spiel auch kulinarisch zu begleiten. Es soll eine festliche Stimmung geben. Schließlich passiert es nicht alle Tage, dass Schottland gegen England bei einem großen Turnier spielt.

Historische Duelle im Wembley

Auch in England hofft man auf eine eher friedliche und freundliche Stimmung, wenn die Schotten in London einfallen. Unter den 22.500 Zuschauern im Wembley-Stadion wird es offiziell nur wenige Tausend Gästefans aus dem Norden geben, doch in der Realität dürften es viel mehr sein – vor allem außerhalb des Stadions. Schon am Mittwoch gab es in den schottischen Medien Berichte über Fans, die sich auf den langen Weg nach London machten. Die in Kilts und Balmoral-Mützen verkleideten Soldaten der fröhlichen „Tartan Army“ stiegen in Glasgow in den Zug ein, um beim alten Feind aus dem Süden feierlich einzumarschieren.

Etwa 20.000 schottische Fans wurden in dieser Woche in der englischen Hauptstadt erwartet, und das, obwohl die Behörden dringend vor solchen Reisen warnen. In Großbritannien liegt die Sieben-Tage-Inzidenz aktuell bei knapp unter 80 Neuinfektionen pro 100.000 Menschen, die Verlängerung der Coronavirus-Beschränkungen um einen weiteren Monat hat diese Woche für Trübsinn gesorgt. Am Mittwoch zeigte sich der Bürgermeister von London, Sadiq Khan, besorgt, dass das EM-Spiel zu einem starken Anstieg der Infektionen in der Hauptstadt führen könne. „In einer idealen Welt würde ich die Tartan Army mit offenen Armen in London begrüßen, aber mit den steigenden Zahlen geht das dieses Mal nicht. Das Beste wäre, nicht nach London zu kommen und das Spiel stattdessen zu Hause zu genießen“, sagte er.

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Es ist wohl ein frommer Wunsch. Denn es ist für beide Fanlager immer etwas Besonderes, wenn England gegen Schottland spielt: Delta-Variante hin oder her. Die älteste Rivalität im Fußball wurde erstmals 1870 im „Oval“, einem Cricket-Stadion, ausgespielt. Seitdem gab es insgesamt 114 Aufeinandertreffen, manche von ihnen wurden zu prägenden kulturellen Erlebnissen in der Geschichte der Nationen. Das legendäre EM-Gruppenspiel im Wembley-Stadion 1996 gilt in manchen Erzählungen etwa als Höhepunkt eines märchenhaften englischen Fußballsommers, dessen Auswirkungen weit über den Fußball hinausgingen. Als Paul Gascoigne mit einem Traumtor die Schotten besiegte und mit seinem Zahnarzt-Jubel das ganze Land zum Lachen brachte, war der Fußball in der Britpop-Ära angekommen. Einige Monate später zitierte Tony Blair in seiner Rede auf dem Labour-Parteitag das beliebte EM-Lied „Three Lions“. „Labour’s coming home“, sagte der Mann, der ein Jahr später zum ersten Premierminister der Arbeiterpartei seit zwei Jahrzehnten wurde.

Die Schotten wollen ein neues Referendum

Ein Vierteljahrhundert danach treffen England und Schottland erneut in einem EM-Gruppenspiel in Wembley aufeinander, doch diesmal vor einem ganz anderen politischen Hintergrund. Der fröhliche Optimismus von damals ist längst wieder verpufft, und auch das Verhältnis zwischen England und Schottland hat unter den Turbulenzen der letzten zehn Jahre stark gelitten. 2014 wählten die Schotten nur knapp gegen die Unabhängigkeit. Heute kämpft die schottische Regierung noch leidenschaftlich um ein zweites Referendum.

Dabei versuchten beide fußballerischen Lager zuletzt, die Wichtigkeit der Rivalität ein wenig herunterzuspielen. „Meine Kinder und Enkel sind Engländer“, sagte Schottland-Trainer Steve Clarke in einem Interview mit dem „Guardian“ vor dem Turnier. Er genieße das Derby, aber er versuche gleichzeitig, den „Lärm“ auszublenden. Auch Englands Raheem Sterling warnte diese Woche davor, „alte Schlachten zu kämpfen“. Klar gebe es Geschichte, sagte der Angreifer von Manchester City, „aber für mich ist es nur ein normales Spiel“.

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Trotzdem wird es am Freitagabend eine besondere Stimmung geben, und zwar auch, weil die Duelle auf dem Platz zum raren Gut geworden sind. Seitdem die „British Home Championship“ Mitte der 1980er Jahren abgeschafft wurde, spielen die zwei Rivalen immer seltener gegeneinander. Seit der EM 1996 gab es nur sechs Aufeinandertreffen, die letzten zwei Siege feierte Schottland 1981 und 1999. Das Spiel am Freitag ist für die Gäste also auch eine historische Gelegenheit.

Der letzte Erfolg gegen England liegt für die Schotten schon über 20 Jahre zurück, doch die Kollegen vom Rugby haben es vorgemacht.
Der letzte Erfolg gegen England liegt für die Schotten schon über 20 Jahre zurück, doch die Kollegen vom Rugby haben es vorgemacht.

© imago images/NurPhoto

„Ein Spiel gegen England ist auch eine Chance, zu zeigen, wozu wir fähig sind. Es gibt jetzt viel mehr Respekt für uns, weil wir uns für ein Turnier qualifiziert haben, aber es gibt nicht den Respekt, den wir uns alle wünschen würden“, sagte Schottlands Kapitän Andy Robertson dem britischen Sender „Sky Sports“ in dieser Woche. Der Außenverteidiger des FC Liverpool glaubt auch, dass seine Mannschaft in London etwas holen kann. „England ist einer der Favoriten auf den Titel, aber wenn unser Plan aufgeht, können wir es schaffen.“

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Für die Schotten ist das Prestigeduell schließlich auch ein Alles-oder-Nichts-Spiel, in dem es vor allem um das Überleben in der Gruppe D geht. Nach der enttäuschenden 0:2-Niederlage gegen Tschechien braucht die Mannschaft von Steve Clarke wohl mindestens einen Punkt, um die Chance auf das Weiterkommen zu wahren, kann dabei aber wieder auf einen ihrer besten Spieler setzen, den. Arsenal-Verteidiger Kieran Tierney. Die Engländer hingegen sind bestens gelaunt und ohne Druck. Nach dem 1:0-Sieg gegen Kroatien kann die Mannschaft von Gareth Southgate schon jetzt vom Achtelfinale träumen. Mit der Rückkehr von Abwehrchef Harry Maguire gewinnen die Gastgeber an Erfahrung und defensiver Stabilität.

Wenn dem Außenseiter keine Überraschung gelingt, ist es für Fraser McCabe kein Desaster. „Am Ende des Tages ist es nur ein Fußballspiel“, sagt auch der Weddinger Wirt, der eigentlich lieber Rugby als Fußball schaut. Trotzdem freut er sich auf die Möglichkeit, einen weiteren Sieg gegen die Engländer zu feiern. Denn im Twickenham-Stadion, der Heimat des englischen Rugbys, hat die schottische Nationalmannschaft in diesem Jahr schon einmal den alten Feind besiegt. „Wenn wir sie auch noch im Wembley-Stadion schlagen, könnten wir schön damit prahlen“, sagt der Schotte.

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