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Auch am Sonntag muss sich der 1. FC Union vor leeren Zuschauerrängen gegen Hertha BSC durchsetzen.

© imago images/Tilo Wiedensohler

Drittes Berliner Derby ohne Publikum: Die neue Nüchternheit der Union-Fans

Zum dritten Mal ist das Berliner Derby ein Geisterspiel. Doch trotz der Pandemie wächst Union weiter. Einige fürchten sogar eine Art Gentrifizierung.

Andreas Zeidler redet gerne und viel, irgendwann bringt er seinen Gemütszustand aber prägnant auf den Punkt. „Schon wieder ein Derby ohne Fans, das ist einfach Mist“, sagt der 49 Jahre alte Anhänger des 1. FC Union. Richtige Vorfreude will sich bei ihm nicht einstellen und in den vergangenen Tagen zog er Snooker- Übertragungen den Spielen der Fußball-Nationalmannschaft vor.

Am Sonntag wird Zeidler natürlich einschalten, auch wenn im vierten Bundesliga-Duell mit Hertha BSC nun schon zum dritten Mal keine Zuschauer zugelassen sind. Dass ein Derby ohne Fans nur mit Abstrichen ein Derby ist, sieht aber nicht nur er so. „Die Fans fehlen, mit zehn Ausrufezeichen!“, sagt auch Unions Abwehrspieler Robin Knoche. „Natürlich schmerzt es.“

Die Aussicht auf ein weiteres Spiel vor leeren Rängen liegt wie ein Schleier über der Spielvorbereitung. Nicht so sehr bei den Profis, die haben sich nach mehr als einem Jahr Pandemie so gut es geht damit arrangiert, aber ganz klar bei den Fans. Vorfreude ist in Berlin nur in homöopathischen Dosen zu finden.

Derbys leben nicht nur von der sportlichen Brisanz, sondern vor allem von der Rivalität der Fans. Schon Tage vor dem Spiel kribbelt es in der Stadt, die Ultras liefern sich Scharmützel, es werden Kampfansagen gesprayt, Choreos vorbereitet, Gesänge einstudiert. Berlin ist selbst mit zwei Bundesligisten keine Fußballhochburg, hier wird es wohl nie so brodeln wie in Dortmund und Gelsenkirchen vor dem Revierderby – so ruhig wie vor diesem Duell war es aber noch nie.

„Das Stadionerlebnis fehlt schon“

„Normalerweise würde es schon lange kribbeln. Aber da ist noch nicht viel, es ist alles nüchterner“, sagt Lisa Streese. Die 27-Jährige geht seit 2008 zu Union und ist in den vergangenen Jahren auch oft zu Auswärtsspielen gefahren. In normalen Zeiten würde sie am Sonntag mit ihrer Dauerkarte auf der Waldseite stehen, dieses Mal ist ein einmonatiges Pay-TV-Abo das höchste der Gefühle für das Derby. Bisher hat sie die Spiele in dieser Saison entweder zeitversetzt über den Vereinssender geschaut oder die Audioübertragung für Sehbehinderte gehört. „Das ist ganz nett und natürlich gibt es momentan viel wichtigere Dinge als Fußballspiele, aber das Stadionerlebnis fehlt schon“, sagt Streese.

Gerade bei Union wird dieses gerne als Teil der Vereins-DNA bezeichnet und wer die Dynamik im vollbesetzten Stadion kennt, weiß auch, warum das so ist. „Mich interessiert natürlich auch der Sport, aber schon als Kind war für mich die Stimmung das Wichtigste“, sagt Streese. „Wie im Stadion so eine Kraft entsteht, wie alle für das gleiche Ziel arbeiten, das ist faszinierend.“

Doch Union-Fans wie Streese und Zeidler vermissen nicht nur die besondere Atmosphäre im Stadion. Gerade Heimspiele leben viel von Gemeinschaft, man trifft sich, fährt gemeinsam zum Stadion, läuft das letzte Stück durch den Wald, sieht bekannte Gesichter, fachsimpelt, trinkt nach dem Spiel vor der Abseitsfalle ein Kaltgetränk. Das lässt sich mit Video- oder Audiokonferenzen und über die sozialen Medien nur bedingt kompensieren. „Der ganze Ablauf fehlt, da bricht ein bisschen Alltag weg“, sagt Zeidler, der die Spendenaktion „Tore für Neven“ ins Leben gerufen hat und erst durch Subotics Wechsel nach Berlin im Sommer 2019 so richtig zum Union-Fan wurde.

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Auch wenn der Abwehrspieler Union schon nach einem Jahr wieder verlassen hat, unterstützen immer noch viele Fans den Bau von Brunnen in Äthiopien durch die „Neven Subotic Stiftung“. Überhaupt ist Solidarität und Gemeinschaft ein wichtiges Schlagwort in diesen Zeiten. Tausende Fans haben vor der Saison trotz der geringen Chancen auf Heimspiele vor Publikum ihre Dauerkarten verlängert und teilweise auf Erstattungen verzichtet.

Zum Heimspiel gegen Schalke 04 verirrte sich ein Rotkehlchen in die Alte Försterei.
Zum Heimspiel gegen Schalke 04 verirrte sich ein Rotkehlchen in die Alte Försterei.

© imago images/Nordphoto

Der Verein wächst trotz Corona

Die Entfremdung vom Milliardengeschäft Profifußball, die Streese und Zeidler wie viele andere Fans schon länger spüren, scheint einen Bogen um Köpenick zu machen. Trotz der Corona-Pandemie wächst der Verein weiter, wenn auch nicht mehr so schnell wie zuvor.

Eines dieser neuen Mitglieder ist Jack McNeill. Der 27-jährige Engländer wohnte zu Zweitliga-Zeiten in Berlin und ging regelmäßig zu Heimspielen ins Stadion. Nach seiner Rückkehr in die Heimat vor wenigen Jahren verfolgte er Union weiter aus der Ferne und wurde vor allem im vergangenen Jahr regelrecht „besessen“ vom Verein. „Am Anfang der Pandemie hatte ich ziemlich starkes Heimweh nach Berlin und einige meiner schönsten Erinnerungen an die Stadt sind mit Union verbunden“, erklärt er.

Also habe er sich entschieden, das Stadionerlebnis in seinem nordenglischen Wohnzimmer zu rekonstruieren. Vor dem letzten Derby Anfang Dezember standen er und seine Freundin kurz vor Anpfiff mit einer Bratwurst in der Hand und einem Schal über dem Kopf vor dem Fernseher und sangen zusammen die Hymne von Nina Hagen. „Die Nachbarn haben uns wohl für verrückt gehalten“, sagt McNeill und lacht.

Droht eine Art Gentrifizierung?

Vor wenigen Monaten wurde er dann Mitglied, auch weil er Union in der Krise finanziell unterstützen wollte. „Nach der Pandemie will ich zurück in die gleiche Alte Försterei wie damals“, sagt er. Gleichzeitig weiß er, dass sich aktuell vieles bei Union verändert – und zwar nicht nur wegen der Pandemie. Der fußballerische Erfolg und das attraktive Image des Vereins bei Menschen wie ihm könnten zu einer Art Gentrifizierung führen, befürchtet McNeill: „Wenn es ein internationales Publikum gäbe, das Union nicht so richtig versteht, dann wäre das vielleicht problematisch.“

Es ist eine Angst, von der rund um die Alte Försterei schon seit Jahren immer wieder zu hören ist. Streese glaubt aber nicht an eine bald drohende Verdrängung: „Ich denke, dass die Leute, die schon lange ins Stadion gehen, wiederkommen werden.“ Gerade nach der Pandemie mit vielen fragwürdigen Entscheidungen der Fußballverbände sei es wichtig, dass die Fans wieder als Korrektiv in die Stadien zurückkehren, sagt Streese. „Wir müssen weiter für unsere Werte einstehen.“

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