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FC St. Pauli: Die Liga des außergewöhnlichen Fußballvereins

Sie sind die Freibeuter der Liga, Underdogs, die es den Großen zeigen wollen. Das ist die Philosophie des FC St. Pauli, des etwas anderen Fußballvereins. Und zugleich ein Dilemma. Wie viel Anderssein verträgt ein Verein im Profigeschäft?

Von Katrin Schulze

Der Weg zur Erkenntnis führt ganz am Ende noch über einen klebrigen schwarzen Plastikboden hinweg durch einen engen Gang. Vorbei an grauen Wänden und vielen Türen. Und erst wenn es nicht mehr weitergeht, dann ist er zu sehen, dieser Spruch. Weiß auf Schwarz: „Die Freibeuter der Liga.“ Und daneben ist der Totenkopf.

So dick und groß ist dieser Spruch, als müssten sich die Spieler des FC St. Pauli hier unten vor ihrer Mannschaftskabine, in der sie sich alle zwei Wochen bereit machen zum Entern, noch einmal daran erinnern. Daran, dass sie anders sind als die, gegen die sie gleich auflaufen.

Warum auch nicht? Im immer durchgestylteren Geschäft mit dem Fußball können sich Piraten, Underdogs, Andersdenkende schon mal verirren, und sie laufen dann Gefahr sich zu verlieren.

Einer, der sich nicht verläuft, steht auf dem Vorplatz des Millerntorstadions, und vor ihm stehen sechs Leute im Halbkreis. „Hallo, freut mich, dass ihr da seid“, sagt Klaus Eder. Er hat sich in seiner leicht verdreckten lilafarbenen Cordhose und der karierten Jacke ein wenig verspätet, aber jetzt geht seine Führung durchs Stadion los. Kostenpunkt: neun Euro fünfzig, Anmeldung per Internet oder Telefon. „Dann lasst uns mal starten“, sagt Eder.

Und wie das Grüppchen sich so dem Stadion nähert, bleiben die Blicke an der opulenten Glasfassade des Backsteingebäudes haften – eine Front, wie sie auch am Potsdamer Platz in Berlin zu sehen sein könnte. Es ist die Südseite des Millerntorstadions, wo auch die Geschäftsstelle, ein Fanshop und das Klubheim ihr Zuhause gefunden haben. Über dem Haupteingang prangt das offizielle Wappen des Vereins – die Burg auf rotem Grund umrandet vom Schriftzug „FC St. Pauli 1910“.

Klaus Eder geht vorneweg. Das heißt, eigentlich begleitet und unterhält er seine Gäste eher. Zur Besichtigung bekommt man bei ihm gleich seine halbe Lebensgeschichte mitgeliefert. Und die passt auch. Denn es ist eine Geschichte vom Anderssein.

Sein 34 Jahre langes Leben ist maßgeblich geleitet vom FC St. Pauli, auch wenn man das zunächst gar nicht vermuten würde, so bayerisch, wie er klingt. Sein Dialekt verrät immer noch seine Herkunft: Regensburg. Eine Stadt in der Oberpfalz, die Klaus Eder schnell zu klein und zu übersichtlich wurde. Was sollte er noch in einer Stadt, in der er sich oft ausgegrenzt fühlte, wenn er doch woanders ein Leben führen könnte, das gerade durch Dazugehörigkeit interessant wird?

Also kündigte Klaus Eder vor zehn Jahren seinen Job bei einer Heizungsbaufirma und setzte sich nur mit einem Rucksack bepackt in einen Zug Richtung Hamburg. Wo er unterkommen sollte, wusste er da noch nicht, warum er gerade hierhin aufbrach, schon: Er wollte zu dem Verein, dem er sich auch im fernen Bayern nah fühlte. Dorthin, wo es sich für einen „kleinen Punker“, wie er sich manchmal selbst nennt, gut aushalten lässt. Und bald fand er auch eine passende Unterkunft. Mitten im Kiez, ganz in der Nähe der Davidwache. Direkt über einer Kneipe namens Skorbut.

Während er seinen Gästen davon zu erzählen beginnt, startet – wie um Klaus Eder recht zu geben – in Regensburg gerade das Kulturfest im Stadtpark. Musik von Regensburgern für Regensburger, versprechen die Veranstalter. Mehr Ausgrenzung geht nicht. Und der Regensburger in Hamburg verspricht seinem Publikum ein buntes, spaßiges Programm in einem Stadion, „das nicht ist wie alle anderen Arenen“.

Das Millerntorstadion auf dem Heiligengeistfeld, das seit ein paar Jahren nun schon modernisiert wird, soll die Philosophie des Klubs spiegeln, tatsächlich steht es aber auch für sein Dilemma. Wie viel Anderssein verträgt ein Verein im Profifußball?

Holzhütten, Schutt und Container

Seinen blonden Irokesen hat Klaus Eder heute unter einer Schirmmütze versteckt. Auch die Tattoos auf seiner Haut lugen nur ein klein wenig unter der Jacke, am Arm und am Hals hervor. So schlendert er jetzt durch einen breiten, dunklen Gang, und mit jedem Schritt geht seine Besuchergruppe immer tiefer hinein in die Welt des anderen Sportvereins. Wenn es hell wird, wenn der Gang sie am anderen Ende wieder ausspuckt, läuft sie über Schotter und an Holzbuden und Containerbauten vorbei.

Hier, im Norden des Stadionvierecks, sieht es noch aus wie vor 30 Jahren, so wie Klaus Eder am liebsten das ganze Stadion hätte. Er spurtet die Treppe zur Stehplatztribüne hinauf, winkt seine Gäste heran. „Hier steh’ ich bei den Spielen immer“, sagt er. „Früher haben wir hier immer unsere Bierbecher rückwärts den Hang runtergeworfen, wenn sie alle waren“, erzählt er. „Na ja, das passiert nun eher nicht mehr“, schiebt Klaus Eder noch schnell hinterher, bevor er die Geschichte erzählen wird, „die immer alle hören wollen“.

Wie kam der Totenkopf überhaupt zu St. Pauli? Klaus Eder fängt in seiner bajuwarischen Art an zu reden, als hätte er nie über etwas anderes geredet, als wären Punkte und Pausen überflüssig: „Mitte der 1980er Jahre war es, da kamen Hausbesetzer von der damals umkämpften Hafenstraße zum Spiel, einer von ihnen, den sie ,Doc Mabuse’ nennen, hatte sich nebenan auf dem Dom, dem Hamburger Volksfest, eine Flagge mit dem Totenkopfsymbol gekauft, die er während der Partie die ganze Zeit schwenkte, und aus einer Fahne mit Totenkopf wurden im Laufe der Zeit immer mehr.“

Inzwischen dürften St. Pauli mehr Leute mit dem Schädel vor den gekreuzten Knochen in Verbindung bringen als mit dem offiziellen Logo. Der Totenkopf etablierte sich im Kiez zum Symbol für die Underdogs, die es den scheinbar übermächtigen Gegnern zeigen. Denn sportlich hat St. Pauli eigentlich nichts Riesiges zustande gebracht. Das Größte, was der Klub bisher erreicht hat, war, die großen Bayern aus München zu schlagen und sich damit zum „Weltpokalsiegerbesieger“ zu machen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat er mehr Mitglieder als mancher Bundesligist. Zog sogar in der Dritten Liga mehr Zuschauer zu sich als die meisten Zweitligisten. Hat einen Fanclub in New York und zig weitere in Europa und überall in Deutschland.

Klaus Eder zum Beispiel hätte sich doch auch für Jahn Regensburg entscheiden können, den Verein seiner Heimat. In dieser Saison spielt der Klub wie St. Pauli in der Zweiten Liga, und er hat ein ziemlich altes Stadion. Eines nach Eders Geschmack – individuell und mit vielen Stehplätzen.

Aber die Sache mit Bayern hat sich für ihn erledigt, das ist nichts für einen kleinen Punker wie ihn. Nur einmal im Jahr, wenn er seine Eltern besucht, reist er noch in den Süden. Ansonsten „ist das hier mein Ding“, sagt er den Besuchern. „Hier sind alle locker, Beleidigungen gibt es nicht. Wir sind nicht gegen jemanden, wir sind alle für den FC St. Pauli.“

Für einen Klub, der sein Trainingszentrum stadtauswärts neben einem der besseren Wohnviertel Hamburgs hat, weit weg vom Kiez. Die Flugzeuge rauschen hier im Minutentakt bedenklich tief über die drei Rasenplätze. In Jeans, weißem Shirt und Halstuch kommt Fabian Boll aus den Kabinen. Seine Haare sind noch nass von der Dusche nach dem Training. Ein bisschen zerknittert sieht er aus.

Pfff, macht er dann. Pfff, Hoffenheim! Zum dort ansässigen Bundesligisten, der TSG Hoffenheim, hätte er wie sein einstiger Trainer und guter Freund Holger Stanislawski wechseln und viel mehr Geld verdienen können. Die TSG ist so etwas wie der komplette Gegenentwurf zu seinem FC St. Pauli – von einem Mäzen hochgehievt bis in die oberste Spielklasse. Pfff. Nichts für Fabian Boll, der mit seinem Klub gewachsen ist.

Früher, als Jugendlicher, war der groß gewachsene Mann in der Fankurve dabei, oft auch auswärts. So lange, bis er irgendwann selbst von den Fans angefeuert wurde. Im zehnten Jahr spielt der 33-Jährige nun schon für den Verein und hat nicht vor, das irgendwann einmal zu ändern. Nur das mit dem Fansein hat er sich versaut, seitdem er Profi ist: „Wenn man sein Hobby zum Beruf macht, verschwindet das total.“ Wie auch so viel anderes verschwindet im Fußball des dritten Jahrtausends. Die eigenwilligen alten Stadien zum Beispiel.

Es darf mitgeredet werden

Fabian Boll hat sich auf einen Holzstuhl gesetzt und überlegt genau, bevor er etwas dazu sagt. „Natürlich hatte das alte Millerntorstadion, das immer kurz davorstand zusammenzubrechen, Charme“, bringt er dann hervor. „Aber wenn man leistungsorientierten Fußball spielen will, muss man auch Einnahmequellen generieren und ein neues Stadion haben. Auch wir können uns nicht davor retten, auf einmal Logen im Stadion zu haben.“ Er sagt tatsächlich: Einnahmequellen generieren.

Im Viereck auf dem Heiligengeistfeld ist Klaus Eder gerade auf den Weg zu den Logen, die hier offiziell Separees heißen – man ist ja auf St. Pauli. Er nimmt die lange Treppe auf der Haupttribüne, vorbei an den Polstersitzen für die Edelanhänger des Vereins. Im Schlepptau folgt ihm das Grüppchen. Und plötzlich, nachdem alle das Stadioninnere erreicht haben, durch den Vip-Bereich mit dem dunklen Parkettboden geschlendert sind, stoppen sie.

Klaus Eder ist vor einem Bild stehen geblieben, auf dem das alte Millerntorstadion zu sehen ist – ohne Business-Plätze und Logen. Er schaut es an, von links nach rechts, von rechts nach links, als sähe er es in diesem Moment zum ersten Mal. Und dann seufzt er. Es ist ein nostalgisches Seufzen, aber Klaus Eder weiß auch, dass der moderne Fußball sich nicht aufhalten lässt. Dass es schwer ist, das Besondere, das Andere zu wahren.

Im Regensburger Stadion haben sie noch keine Logen, aber auch dort wird schon fleißig umgebaut für Liga zwei. Als der Verein noch in der Dritten Liga spielte, wollten im Schnitt 3800 Regensburger Jahn Regensburg sehen. Etwa so viele, wie an einem Wochenende zu dem Kulturfest in den Stadtpark kommen.

Im Millerntorstadion schließt Klaus Eder eine Tür zur Loge, zum Separee auf. Willkommen in Susis Showbar! Der Nachtclub aus dem Kiez hat hier im Stadion einen kleinen Ableger. Rote Wände, schwarze Sessel und eine Stange, an der sich Gogo-Girls räkeln können. Klaus Eder seufzt schon wieder, nur diesmal nicht aus Nostalgie, sondern weil ihm dieser Sexismus nicht passt. Deshalb hat er mit anderen Fans auch etwas dagegen unternommen. Einmarschiert sind sie in die Bar auf der Großen Freiheit, sie brachten ihr eigenes Bier mit und grölten in dem Nachtklub wie im Fußballstadion. Seit dieser Aktion tanzt bei Susi keine mehr an der Stange im Millerntorstadion.

Auch das ist Ausdruck des Hamburger Piratendaseins – eine andere Art der Fankultur, die Respekt und Mitspracherecht einfordert. St. Paulis Anhänger haben durchgesetzt, dass der Stadionname nicht verkauft wird und dass es bargeldloses Zahlen, wie in anderen Arenen längst üblich, am Millerntor nicht geben wird.

Fast zwei Stunden lang begleitet Eder die sechs Leute nun schon durchs Stadion. Die Ersten schnaufen schon vor Erschöpfung, „aber nun kommen wir zum Herzstück“. Den engen Gang entlang über den Plastikboden, bis in die Niederungen des deutschen Fußballs, wo Klaus Eder die schwere Tür zur Mannschaftskabine öffnet. Im vorderen Teil befinden sich die Umkleiden, und dahinten ist der Duschraum, inklusive Entmüdungsbecken und Whirlpool.

Noch vor drei Jahren floss aus den alten Duschen nur kaltes Wasser, was die verwöhnten Bayern und andere Bundesligisten schon mal ungeduscht gen Heimat oder Hotel fahren ließ. „So ist halt St. Pauli“, sagt Klaus Eder in die Kabine hinein und wohl auch ein bisschen zu sich selbst.

Als er später zu seiner Wohnung über der Punkrockkneipe geht, führen der Regensburger Kammerchor und die Regensburger Chorphilharmonie in Regensburg ihre Version von Carl Orffs „Carmina Burana“ vor. Eine Liedersammlung, in der es um Freude am Leben geht, um Saufgelage und die Sehnsucht nach Neuem.

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