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Drei, vier, fünf Sekunden – dann lässt Boris Nicolai den Ball los.

© promo

Deutscher Spieler bei den Paralympics: Der perfekte Wurf beim Para-Boccia

Boris Nicolai ist der erste deutsche Boccia-Spieler, der bei den Paralympics startet. Hier erklärt er, worauf es bei seiner Sportart ankommt.

Die Bedingungen für Boris Nicolai sind optimal. Die Temperatur in der Halle ist kühl, die Luftfeuchtigkeit gering. Keine Bälle, die beim Para Boccia aneinanderkleben, kein langsamer Boden. Im Gegenteil: Die trockene Luft macht Boden und Bälle schnell. So spielt Nicolai am liebsten. Er hat einen klaren Plan, mit dem er ins Spiel geht, hat sich gut auf seinen Gegner vorbereitet, kennt dessen Stärken und Schwächen. Für den Saarländer zählt vor allem: dem Gegner das eigene Spiel aufzwingen.

Beim Para-Boccia geht es darum, die eigenen Bälle möglichst nah am weißen Jackball zu platzieren. Am Ende des Spiels gibt es einen Punkt für jeden Ball, der näher am Zielball liegt als der des Gegners. Ausgeübt wird Para-Boccia im Rollstuhl. Die Sportlerinnen und Sportler sind dabei je nach Art der Einschränkung in vier Klassen unterteilt. Abhängig davon darf der Ball geworfen, geschossen oder über eine Rampe gerollt werden. Boris Nicolai startet aufgrund seiner Muskeldystrophie in der Klasse BC4.

Nach der gewonnenen Platzwahl und dem ersten Wurf von Nicolai liegt der Jackball in vier bis fünf Metern Entfernung. Besser könnte es für den deutschen Nationalspieler in seiner Vorstellung nicht sein. Als nächstes darf er, noch vor dem Gegner, seinen ersten blauen Ball werfen. Hier geht es nur um Eines: das sogenannte Anlegen. Nicolai will dabei seinen Ball möglichst nah am weißen Jackball platzieren. Gleichzeitig gilt es, den Gegner möglichst effektiv vom Jackball fernzuhalten. „Mein blauer Ball muss genau in seiner Linie liegen, sodass er keinen Winkel hat, um meinen Ball wegzuschießen“, erklärt Nicolai. Wenn Nicolai mit seinem Rollstuhl also etwas rechts von der Mitte steht, und der Gegner etwas links von der Mitte, muss Nicolais Ball auch etwas links vom Jackball platziert sein – und trotzdem sehr nah dran.

Nicolais Erfolgsaussichten sind kaum einzuschätzen

Boris Nicolai wird in Tokio der erste deutsche Athlet sein, der seine Sportart bei den Paralympics vertritt. Der 36-Jährige, der 2018 Bronze bei der WM und 2019 Silber bei der EM gewann, reist als Weltranglistenzweiter an. Seine Erfolgsaussichten sind jedoch nicht so leicht einzuschätzen. Das letzte Turnier von Nicolai ist durch die Corona-Pandemie lange her - man mag es kaum glauben: Oktober 2019. „Da frage ich mich natürlich schon: Wo stehe ich heute im Vergleich zu den anderen“, sagt er.

Bevor er den nächsten Ball überhaupt in die Hand nimmt, holt Nicolai tief Luft. Beim Ausatmen bewertet er die Situation an: Wie sieht das Spiel aus? Was muss er als nächstes machen? Welchen Ball muss er dafür wählen? Einen weichen, griffigen Ball zum Legen–- oder einen harten, schnellen Ball zum Schießen?

Die Bälle werden gewogen

Sechs Bälle gibt es insgesamt, schon vor dem Spiel muss Nicolai entscheiden, wie viele Bälle welcher Art er benutzen will. Während des Turniers wird nach dem Zufallsprinzip kontrolliert, dass kein Spieler Bälle getauscht hat oder sie von bestimmten Normen abweichen. Stimmen bei der Kontrolle Gewicht oder Durchmesser nicht, gibt es eine Gelbe Karte und einen Ball vom Veranstalter. „Bei der WM 2018 ist mir das schon mal passiert. Da war der Ball 0,1 Gramm zu schwer.“ Nicolai geht bis heute davon aus, dass das an der Luftfeuchtigkeit lag. Bei einer zweiten gelben Karte wegen eines solchen Verstoßes wäre er disqualifiziert worden.

Solche Gedanken blendet Nicolai während des Spiels aus. Er konzentriert sich auf seine Taktik und wählt einen griffigen Ball zum Anlegen. Dann positioniert er seinen Rollstuhl. „Der muss perfekt ausgerichtet sein“, sagt Nicolai. Er fokussiert, wo er seinen Ball hinwerfen möchte. Dort, direkt am weißen Jackball, soll der blaue Ball liegen bleiben. Im Kopf simuliert er den Wurf, geht alles genau durch. Der Rollstuhl muss dafür fest stehen, Nicolai zieht die Bremsen an.

Auf das richtige Timing kommt es an

Jetzt wird es ernst. Er nimmt den Ball in die Hand, der Handrücken zeigt nach vorne. So kann Nicolai zwar weniger kraftvoll, aber viel genauer werfen. Er beginnt routiniert, mit seinem Arm zu schwingen. Es braucht ein paar Pendelbewegungen, bis er die richtige Geschwindigkeit hat. „Beim Schwingen stelle ich mir auch nochmal vor, dass alles passt“, sagt er. Es muss alles stimmen. Das richtige Timing: Er darf den Ball nicht zu früh, aber auch nicht zu spät loslassen. Der richtige Griff: Fasst er den Ball falsch an, dreht er sich nach links oder rechts weg. Die richtige Kraft: Nur so kommt der Ball dort an, wo er hin soll. Wie alle Boccia-Spieler hat auch Nicolai Krafteinbußen, muss teilweise körperlich an seine Grenzen gehen. Es sind drei, vier, vielleicht fünf Sekunden, in denen der Saarländer alles Wichtige nochmal durchgeht. Wenn sein Gefühl stimmt, lässt er los und der Ball verlässt die Hand.

Und es passt alles. Der Ball rollt genau, und zwar wirklich ganz genau dorthin, wo Nicolai ihn haben will. Bei einer kürzeren Distanz weiß er das sofort. Nicolai freut sich, jubelt, zeigt dem Gegner direkt: Das war gerade genauso, wie ich das geplant habe.

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier,

Mona Alker

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