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Professorin Steffi Richter vom Ostasiatischen Institut der Universität Leipzig bezeichnet Olympia und Paralympics „Wiederaufbaubehinderungsspiele“.

© Imago

Eine Japanologin über die Situation im Gastgeberland: „Das sind Probleme, die durch die Spiele nicht gelöst werden“

Die Japanologin Prof. Steffi Richter über die Spiele im Kontext des Wiederaufbaus, Korruption und die Lage von Menschen mit Behinderung in Japan.

Frau Richter, wie geht es Japan derzeit politisch?

Japan geht es politisch, wie es einer gespaltenen Gesellschaft geht. Die Olympischen Spiele und die Paralympics tragen strukturell einiges zu Tage: Große Teile der Bevölkerung sind frustriert, dass ihre Stimme überhaupt nicht gehört wird und entwickeln deshalb ein Desinteresse an Politik. Es ist eine Gesellschaft, der es politisch nicht so besonders gut geht, denn die Wahlen zeigen nicht das, was in der Gesellschaft insgesamt passiert. Für mich ist Politik mehr als Wahlen und das, was in politischen Organisationen und Machtstrukturen passiert, nämlich auch, welche Aktivitäten regional passieren. An der Basis geschieht – zum Glück – immer noch mehr als in Wahlen zum Ausdruck kommt. Das Problem ist die politische Opposition, die keine wirkliche Alternative anbieten kann.

Welche gesellschaftlichen und moralischen Prinzipien prägen denn das Zusammenleben in Japan, insbesondere in Tokio?

Die Spiele in Tokio finden im Kontext eines tragischen Jubiläums statt – zehn Jahre nach dem Reaktorunglück in Fukushima. Welche Bedeutung hat es für Japan vor diesem Hintergrund, die Welt in diesem Jahr zu Gast zu haben?

Die Spiele sind kurz nach der Dreifachkatastrophe von der offiziellen Politik zu so genannten Wiederaufbauspielen erklärt worden. Tokio war damals unter der Regierung eines national- bis nationalistisch-konservativen Regierungsgouverneurs, der den Ehrgeiz hatte, als erstes asiatisches Land die Spiele als „Global City“ ein zweites Mal zugesprochen zu bekommen. Nachdem dann die Dreifachkatastrophe passierte, ist dieser Politiker, der zunächst einmal verkündet hat, diese Dreifachkatastrophe sei eine Strafe des Himmels für die Japaner, weil sie sich nur ihren privaten Interessen und ihrer Gier unterwerfen, sehr schnell umgeschwenkt und hat gesagt: Das müssen die Wiederaufbauspiele werden. Das ist merkwürdigerweise eine Logik, die das IOC dann auch überzeugt hat – neben dem Korruptionsgeld, wegen dem mittlerweile Prozesse laufen. Aufgrund dieser Logik, gerade weil dieses Land diese Dreifachkatastrophe verdauen muss, wurden die Spiele als eine Art Hoffnungsträger an Tokio vergeben.

Sind sie das denn?

Wir Japanologinnen und Japanologen haben das Zusammendenken von Spielen und Dreifachkatastrophe zum Anlass genommen und untersuchen auf einer diskursanalytischen Ebene, welche neuen Identitäten nicht nur für Tokio, sondern auch für „die Japaner“ konstruiert werden sollen. Da hat sich sehr bald herausgestellt: Es sind eigentlich nicht Wiederaufbauspiele, es sind Wiederaufbaubehinderungsspiele, weil Personal, Material, finanzielle Ressourcen, die eigentlich in die betroffene Region gehören, wesentlich in Tokio bleiben. Der ehemalige Premierminister Abe prägte 2013 bei der Vergabe der Spiele an Tokio den Satz, Fukushima sei „under control“ – ein Satz, der so nicht stimmt. Abe hat aber auch einen zweiten Satz gesagt, nämlich dass Tokio nie in Gefahr gewesen sei. Das ist einerseits eine Spaltung, andererseits eine ziemliche Ehrlichkeit, die er an den Tag gelegt hat, die allerdings so auch nicht stimmt. Auch Tokio ist, zumindest zeitweise, von der radioaktiven Wolke betroffen gewesen. All das, was kritisch gegenüber den olympischen Spielen hervorgebracht wird – Kommerzialisierung, Verschärfung von Kontrolle über die Gesellschaft – trifft genauso auf Tokio zu, hinzu kommt dann noch die unsägliche Situation in der Betroffenenregion.

Welche innen- und außenpolitischen Zeichen gehen von den Spielen aus? Welche Ziele verfolgt Tokio bzw. Japan mit der Ausrichtung der Spiele?

Das ist eigentlich keine schwierige Frage: Es gibt einen äußeren Schein, den die Spiele bedienen wollen, nämlich so etwas wie den olympischen Geist, Frieden in der Welt, Völkergemeinschaft, Zusammenkommen, Leistungsstärke messen. Den will ich Sportlern und Olympiabegeisterten nicht von vornherein absprechen. Das ist eine Botschaft, die viele nach wie vor mit den Spielen verbinden, die aber aufgrund der Entwicklung spätestens seit den Spielen 1984 in Los Angeles an Wert verloren hat. Damals, da sind sich die Olympiaforscher einig, fanden die ersten kommerzialisierten Spiele statt. Letztlich geht es um Kommerz und dieser Geist hat die Spiele überwölbt. Es gibt nicht umsonst eine Bewegung, die sagt: Gebt die olympischen Spiele dem Sport wieder zurück, denn mit Sport haben die nicht mehr sehr viel zu tun. Die Message, die in den offiziellen Slogans zum Ausdruck kommt: Einheit durch Diversität, Nachhaltigkeit, Slogans, die seit einigen Jahren auch für andere Spiele propagiert worden sind, werden schlicht und ergreifend verschlungen durch das, was dahintersteht: Die Spiele zu etwas werden lassen, das dem IOC, den Fernsehstationen, den Sponsoren und Japan Renommee und in der weltweiten Konkurrenz Vorteile im Geschäft bringen.

Wie kommt das in der japanischen Bevölkerung an?

Japan war in den 90er-Jahren in einer tiefen Strukturkrise und die Spiele gelten als ein Faktor, die Ökonomie im Land anzukurbeln. Deshalb haben große Teile der Bevölkerung gesagt: Naja, wenn’s das dann bringt, dann machen wir mit. Die Zustimmung zu den olympischen Spielen, hatte auch damit zu tun, dass die Bevölkerung sehr unterschiedliche Hoffnungen mit den Spielen verbunden hatte. Das hat sich zum Teil auch realisiert, deswegen will ich das nicht als reine Propaganda abtun – das wäre dumm. Daran haben auch viele Bewohner Japans, die sich für dieses Thema interessieren, mitgewirkt, um die Stadt lebenswerter zu machen. Da ist einiges passiert, aber das sind Inseln, insgesamt.

Dann klingt es ja doch ein bisschen nach Wiederaufbauspielen, aber mit „Gschmäckle“ vielleicht?

Umbauspiele, würde ich mal sagen. Es gibt in Japan in der gesamten Nachkriegszeit – ein Begriff, der in Japan bis in die 1990er Jahre hinein verwendet wird – einen Gap zwischen dem Großraum Tokio mit seinen über 30 Millionen Einwohnern und anderen Regionen, die abgehängt werden, wo Infrastruktur verfällt. Die japanische Gesellschaft ist eine alternde. Das ist sind Probleme, die durch die Spiele nicht gelöst werden, wodurch also auch kein Wiederaufbau stattfindet.

Bezugnehmend auf die von Ihnen angesprochene Korruption: Ist diese Korruption sinnbildlich für die Spaltung der Gesellschaft zwischen politischen Akteur*innen und der Bevölkerung?

Ja. Ein Beispiel ist der Fall des Olympischen Dorfes – jene aufgeschütteten Tokio-Buchtareale, die der Stadt eigentlich gehörten, die aber spottbillig an die großen Konglomerate von Immobilien- und Bauunternehmen vergeben wurden. In der Politökonomie spricht man von Konzession, die letztlich eine Privilegierung der großen Konzerne ist und zu den eigentlichen Problemen, die Spaltung in arm und reich zum Beispiel, führt. Das klingt vielleicht ein bisschen ideologisch und propagandistisch, aber wir müssen den Dingen in die Augen schauen. Insofern ist die Korruption ein Fingerzeig auf das, was in der Gesellschaft insgesamt passiert.

Über die Situation von Menschen mit Behinderung gab es in den vergangenen Jahren negative Schlagzeilen aus Japan: 2019 tötete ein Mann 19 Menschen in einer Behinderteneinrichtung, bis 1996 konnten Menschen mit Behinderung zwangssterilisiert werden und die japanische Regierung manipulierte die Quote von Menschen mit Behinderung, indem sie Menschen als solche ausgab, die keine Behinderung hatten. Wie gehen die japanische Politik und Bevölkerung mit Menschen mit Behinderung und deren Belangen um?

Hier möchte ich mich nicht zu weit herauslehnen. Das, was ich jetzt sage, habe ich nicht erforscht, sondern beruht auf meinen Eindrücken, als ich in Japan gelebt habe. Ich habe behinderte Menschen eigentlich immer nur in den lokalen Communities gesehen, wo sie mit viel Fürsorge von Verwandten, Bekannten und Netzwerken versorgt wurden. Insgesamt ist aber in der Gesellschaft eine ziemliche Kälte gegenüber diesen Menschen und auch ein Desinteresse zu spüren gewesen. Zugleich geraten Menschen mit Behinderung, auch bei öffentlichen Veranstaltungen wie den olympischen und paralympischen Spielen, zunehmend in die Öffentlichkeit. Wenn die Ankunft der olympischen Fackel aus Athen von einer Frau im Rollstuhl mitbegrüßt wird, dann ist das ein Zeichen für ein Stück mehr öffentlichen Bewusstseins. Aber die Realisierung einer gleichberechtigten Teilnahme von behinderten Menschen, auch einer sozialen und ökonomischen Gleichstellung von Menschen mit Behinderung – davon ist die japanische Gesellschaft mindestens so weit weg wie sie es hier bei uns auch ist. Das Bewusstsein in der Öffentlichkeit, das muss noch wachsen, wachsen, wachsen.

Um es nochmal zusammenzufassen: Die Strukturen in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung werden durch die Paralympics nicht verändert werden?

Schonmal gar nicht im ganzen Land. In Tokio wird – zumindest, wo die olympischen Spiele stattfinden – einiges passieren. Aber Japan war für mich auch das erste Land – ich war Anfang der 80er-Jahre das erste Mal dort –, in dem ich Wegmarkierungen für Blinde wahrgenommen habe und dachte: Aha, das spielt zumindest hier schon eine Rolle. In der DDR und später in der Bundesrepublik gab es das lange nicht. Es ist nicht so, dass Japan besonders rückschrittlich ist.  Ich sag’s nochmal: Das sind strukturelle Veränderungen, die alle Länder betreffen und da bleibt viel zu tun.

Dieses Interview ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier. Alle aktuellen Entscheidungen und Entwicklungen lesen Sie in unserem Paralympics Blog.

Lennart Glaser

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