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Während der Nationalhymnen standen die beiden Männer aus Bingen hinter der Mannschaft und hielten ihr Transparent hoch.

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„Wir sind von Bingen angereist...“: Bei den EM-Finalspielen 1972 erlangten zwei Fans deutschlandweit Berühmtheit

Im Juni 1972 reisten Zehntausende deutsche Fans nach Belgien. Darunter zwei Männer aus Bingen, die mit ihrem Transparent in die Fußball-Geschichte eingingen.

Überall diese Deutschen! Singend und grölend fielen sie in die Cafés von Antwerpen und Brüssel ein, schwarz-rot-gold beflaggt zogen sie durch die Innenstädte, und in den Stadien rollten sie ihre Transparente aus. „Da hilft kein Spuk und keine Geister, Deutschland wird Europameister“, stand auf einem. „Netzer, Müller und Co. schießen Belgien k.o.“, prophezeite ein anderes.

25.000 deutsche Schlachtenbummler reisten Mitte Juni 1972 zu den Finalspielen der Europameisterschaft nach Belgien, in einigen Quellen ist sogar von über 30.000 die Rede. Es war für die Mannschaften eine komplett neue Erfahrung, denn so viele Auswärtsfahrer hatte es bis dahin nie bei einem großen Turnier gegeben. Belgiens Torhüter Christian Piot gab nach der 1:2-Halbfinalniederlage gegen die deutsche Elf entnervt zu Protokoll: „Nicht mal zu Hause ist man vor den Deutschen sicher.“

Besonders extrem war die Situation aber beim Endspiel im Brüsseler Heyselstadion. In den letzten fünf Minuten, Deutschland führte bereits 3:0 gegen die Sowjetunion, drängten die Anhänger von den Rängen aufs Feld und postierten sich an der Außenlinie. Es waren Szenen, die man später oft bei DFB-Pokalspielen zwischen Amateurteams und Bundesligisten gesehen hat. Oder die man von Bildern des „White Horse Final“ kannte, dem legendären englischen FA-Cup-Finale von 1923, bei dem ein Polizeipferd die Fanmassen zurückdrängte.

Nach dem Finale 1972 reagierte vor allem die bürgerliche Presse mit Unverständnis. In der „Zeit“ regte sich Adolf Metzner in einer „Publikumsbeschimpfung mit Abstrichen“ auf: „Man wird an die Fans bei großen Jazzkonzerten erinnert, wo populäre Solisten sich oft eine eigene Leibwache halten müssen, damit die Besessenen nicht das Podium stürmen. Sie schlagen dann oft das Gestühl kurz und klein.“

Zuschauer stürmten auf den Platz

Tatsächlich kam erst Anfang der Siebziger so etwas wie ein Starkult im Fußball auf. Spieler wie Franz Beckenbauer und Günter Netzer wurden verehrt wie einige Jahre zuvor die Beatles. Sie waren Popstars. Aber ging es nach dem EM-Finale wirklich so anarchisch zu, wie Metzner berichtete?

DFB-Torhüter Sepp Maier, der die Fans in der Schlussphase in Schach hielt, hat andere Erinnerungen. „Mir war nicht mulmig. Einmal hat der Schiedsrichter Abseits gepfiffen, die Zuschauer dachten, es wäre der Schlusspfiff und sind auf den Platz gestürmt. Aber sie zeigten Verständnis, als ich sie zurückschickte. Ich wusste, die wollten einfach nur feiern.“

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An jenem Abend tummelten sich auch zwei Männer aus dem pfälzischen Bingen im Stadion, die deutschlandweit Berühmtheit erlangen sollten. Sie standen während der Nationalhymnen hinter der Mannschaft und hielten ein Transparent hoch, auf dem ein Reim zu lesen war: „Wir sind von Bingen angereist, auf dass der Europameister Deutschland heißt.“

Die meisten Zuschauer im Stadion und an den Fernsehgeräten hielten sie vermutlich für einen Teil der DFB-Entourage, denn sie sahen aus wie offizielle Fahnenträger, die man von Olympischen Spielen kennt. In Wahrheit aber waren sie zwei gewöhnliche Fans, die sich vor Anpfiff aufs Spielfeld geschlichen hatten. „Flitzer“ würde man sie heute nennen. Bloß: Warum konnten sie dort minutenlang unbehelligt stehen? Wieso schritten keine Ordner ein?

Mit dem Ford Taunus nach Antwerpen

Die beiden Männer, Engelbert Lippert und Werner Hück, sind schon länger verstorben, aber in Bingen sind sie bis heute bekannt. Sie sind Teil der Stadtfolklore, und jedes Mal, wenn eine Europameisterschaft ansteht, berichten Lokalblätter über sie. Verwandte, Freunde und Bekannte setzen dann nach und nach ihre abenteuerliche Reise aus dem Juni 1972 zusammen. So auch Engelbert Lipperts Sohn Ottmar, der in Bingen ein Modellbahngeschäft betreibt. Er sagt: „Mein Vater war fußballverrückt. Er war Fan der DFB-Elf und des 1. FC Kaiserslautern. Raten Sie mal, warum ich Ottmar heiße!“

Von Beruf war Engelbert Lippert Fernfahrer; für die Firma Löwen transportierte er Spielautomaten und Flipper durch Europa. Er war ein geselliger Typ, der nach getaner Arbeit noch gerne in Gaststätten einkehrte. Eine seiner Lieblingskneipen war das „Le Chapeau Blanc“, das Vereinslokal des RSC Anderlecht.

Am 14. Juni 1972, dem Tag des Halbfinales, machten sich Engelbert Lippert und Werner Hück auf den Weg nach Antwerpen.
Am 14. Juni 1972, dem Tag des Halbfinales, machten sich Engelbert Lippert und Werner Hück auf den Weg nach Antwerpen.

© imago images/WEREK

Im Laufe der Jahre freundete er sich dort mit Nikolaus Swalus an, einem Vorstandsmitglied des RSC und des belgischen Fußballverbandes. Für das Halbfinale und das Finale der Europameisterschaft besorgte der Funktionär aus Belgien dem Fan aus Bingen Tickets nah am Spielfeldrand. In Bingen glauben einige, dass Lippert ihm dafür Prozente für Spielautomaten versprach.

Am 14. Juni 1972, dem Tag des Halbfinales, machten sich Engelbert Lippert und Werner Hück mit zwei weiteren Freunden auf den Weg nach Antwerpen. Ihr Auto, ein klappriger Ford Taunus, behängten sie mit allerhand Fahnen. Ein Porträt von Gerd Müller prangte auf der Fahrertür, eines von Franz Beckenbauer auf der Beifahrertür, auf der Motorhaube stand ein weiterer Reim: „Wir helfen mit beim Meisterstück – vier Fans vom SV Bingerbrück“.

Keine Absperrungen und kaum Sicherheitskräfte

Beim Halbfinale im Antwerpener Bosuilstadion blieben die vier Fans noch brav auf ihren Sitzen und sahen mit 55.000 Zuschauern einen 2:1-Sieg gegen Gastgeber Belgien. Die beiden Tore für die deutsche Mannschaft schoss Gerd Müller.

Ob die Banneraktion im Endspiel geplant oder spontan war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. In einigen Quellen heißt es, die Fans hätten Haken schlagend die Ordner abgehängt, und als sie mit ihrem großen Plakat hinter der Mannschaft standen, ließen die Sicherheitskräfte sie gewähren, um keinen größeren Tumult auszulösen.

Ottmar Lippert spekuliert, dass der belgische Fußballfunktionär Nikolaus Swalus sein stillschweigendes Einverständnis für die Platzbegehung gegeben habe. Es musste ja nicht mal ein Gatter geöffnet werden, es gab keinerlei Absperrungen, kaum Sicherheitskräfte, die Fans konnten einfach auf den Rasen gehen.

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Dort angekommen, begleiteten sie die Mannschaft wie selbstverständlich bis zur Mittellinie, die Stangen des Doppelhalters fest umklammert und in die Höhe gereckt. Fotografen aus aller Welt drückten auf den Auslöser, und zu Hause im „Rheinischen Hof“, wo das halbe Dorf vor dem einzigen Farbfernseher des Ortes saß, staunten die Freunde nicht schlecht. „Schau an, der Engelbert. Und da der Werner!“

Originalbanner ging bald verloren

Kaum auszudenken, was die Aktion heutzutage für Folgen gehabt hätte. Mehrjährige Stadionverbote, endlose Diskussionen um Sicherheit, Talkshowkrawall bei Plasberg und im Doppelpass. Im Sommer 1972 aber bekamen die Bingener Flitzer nicht mal einen Rüffel vom DFB oder der Uefa. Im Gegenteil: Nach ihrer Rückkehr wurden sie bei einer Weinprobe sogar vom Bingener Bürgermeister geehrt, zum „Dank für so viel positive Werbung für die Heimatstadt“. Ihr Transparent war um die Welt gegangen, zusammen mit den abertausenden Aufnahmen des schwarz-rot-goldenen Fahnenmeeres.

Es sollte 16 Jahre dauern, bis Auswärtsfans bei einem Turnier wieder so gewaltige Bilder produzierten wie 1972. Beim EM-Halbfinale 1988 zwischen Deutschland und Holland war das halbe Hamburger Volksparkstadion in Orange getüncht. „Es wäre schön gewesen, wenn wir ein Heimspiel gehabt hätten“, sagte Frank Mill nach der Niederlage.

Das Bingener Plakat hing 1988 nicht in Hamburg und auch bei keinem anderen Turnier. Das Originalbanner sei bald verlorengegangen, sagt Ottmar Lippert. Für eine SWR-Doku wurde aber ein Replikat angefertigt, und 2016 tauchte eine weitere Kopie auf.

Vier Freunde, um die 40, auch aus dem Bingener Raum, hatten es mit nach Frankreich genommen. Sie entrollten es vor dem Eiffelturm und zum Spiel gegen die Nordiren. „Traditionen soll man pflegen“, sagte einer der Fans der „Allgemeinen Zeitung“. Während der Nationalhymne blieben sie aber lieber auf ihren Plätzen.

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