zum Hauptinhalt
Silja Viermann

© privat

Nachruf auf Silja Viermann: „Das geht nicht!“

Sie hatte so viel Energie; da blieb genug für andere übrig. Bis alle Kraft aus ihr entschwand.

Zuerst hatte Silja es geliebt, sich mit ihrer großen Schwester das Zimmer zu teilen. Wenn sie oben im Doppelstockbett nicht schlafen konnte, beugte sie sich runter: „Birte, erzähl mir was.“ Und Birte, drei Jahre älter, erzählte ihr etwas. Als Silja zehn war, spürte sie, dass sie ihre Ruhe brauchte, einen Raum für sich. Erst war es nur ein winziges Zimmer, und als der Dachboden ausgebaut war, konnte sie dort mit ihrer besten Freundin Tina trampolinspringen und Mädchengeheimnisse austauschen. Man konnte Silja vieles anvertrauen, sie verstand immer. Manchmal musste man auch gar nichts sagen. Silja wusste, was los war. „Weine doch mal“, sagte sie zu Tina, die ihre Sorgen nicht hochkommen lassen wollte.

Silja wusste auch, dass es ihrer Mutter nicht gut ging, nachdem sich der Vater getrennt hatte. Die Leerstelle in dem kleinen Haus in Nordrheinwestfalen konnte aber nicht gefüllt werden, so sehr Silja auch zu trösten versuchte. Dennoch, Freundin Tina kam weiterhin gerne zu Besuch, heimelig und herzlich war es bei den Viermanns, sagt sie. Dass es zum Abendbrot Vollkornbrot mit Grünkernaufstrich gab, war gar nicht schlimm.

Mit 14, zu Silvester probierten sie ihren ersten Wein. Dann färbten sie die Haare rot und lila. Mit dem Christlichen Verein für junge Menschen zelteten sie, lasen die Bibel, veranstalteten Schnitzeljagden und Lagerfeuer. In der Disco hörten sie Grunge- und Gothic und wippten von einem Bein aufs andere. Mit Freundinnen las sie Texte über Feminismus. Das Kapital von Marx haben sie anfangen, aber das war dann doch zu kompliziert und trocken.

Schwester Birte hatte Rückenschmerzen. Sie fand einen Therapeuten, bei dem es nicht nur ums Dehnen und Strecken ging, sondern auch um Atmung und Geist. Birte erzählte ihrer Mutter und Silja davon, gemeinsam besuchten sie einen Lehrgang. Silja war begeistert. Sie konnte das, was sie intuitiv schon machte, zuhören und helfen, richtig anwenden. Doch die intellektuelle, politische Silja wollte Soziologie studieren. Wollte nicht nur den Menschen verstehen, sondern die Gesellschaft. Nach ein paar Semestern nahm sie Theaterwissenschaften dazu und zog nach Berlin, die Stadt, in die sie sich verliebte.

Wollte einer mehr, zog sie sich zurück

Jetzt passierte viel: das Studium, gleichzeitig eine Therapieausbildung nach der Grinberg Methode, eine eigene Praxis. An der Volksbühne arbeitete sie auch noch, zwei Jahre in der Dramaturgie mit Schlingensief und Castorf. 2003 entschied sie sich gegen die Kunst, für den Mensch. Denn Zufriedenheit und Glück verspürte sie bei ihren Klienten. Sie hatte so viel Energie; da blieb genug für andere übrig. Das sprach sich rum, 40 Leute kamen jede Woche in ihre Praxis im Bergmann-Kiez.

Silja bildete sich ständig fort: Behandlung von Traumata, systemische Aufstellung, Soundtherapie, eine heilpraktische Ausbildung in Psychotherapie. Sie mochte Filme mit Superhelden und wie diese ihre Begabung entdecken.

Brauchte sie selber Liebe und Zärtlichkeiten, wählte sie sich einen Liebhaber. Wollte jemand mehr, eine Beziehung, zusammen ziehen, eine Familie gar, zog Silja sich zurück. Ihr eigener Raum, ihre Zeit mit sich allein, das war ihr wichtig. Manchmal wollte sie auch mehr, konnte das aber nicht zulassen. Den anderen ständig spüren zu müssen, war ihr dann doch zu viel. Sie reiste auch gern allein, in die USA, nach Israel, sie schrieb kurze Geschichten, besuchte Schreibkurse, wollte sich an eine Novelle wagen.

War es der Fussbruch, der Sehnenriss, die Schmerzen in der Schulter, im Nacken? Auf einmal fehlte Silja die Energie, die Kraft, sie hatte Kopfschmerzen, es gab Tage, an denen gar nichts ging. Zwischendrin war alles wie immer, sie strahlte wie eh und je. Es war die Nervenkrankheit ME, Myalgische Enzephalomyelitis, auch chronisches Erschöpfungssyndrom genannt. Jede Aufregung, anstrengend oder schön, könnte den nächsten Schub hervorrufen.

Sie lernte Lluis aus Barcelona kennen, er war sofort verliebt. „Wir haben gelacht, waren albern, haben Stunden geredet.“ Irgendwann haben sie sich das erste Mal geküsst. Und schon im nächsten Moment sagte sie: „Das geht nicht.“ Zur Angst, ihre Unabhängigkeit zu verlieren, kam die Sorge, dass die Liebe zu viel Aufregung mit sich bringen könnte. Lluis akzeptierte: „Dann nur Freunde, Hauptsache wir verbringen Zeit miteinander.“ So ging es hin und her, bis sie sich einen Ruck gab, jetzt oder nie, bis sie doch ein Paar wurden. Zusammen gezogen sind sie natürlich nicht.

Doch das, was Silja machen konnte, alleine oder mit Lluis, wurde weniger. Sie empfing weniger Klienten, dann beriet sie nur noch am Telefon, schließlich die Erwerbungsunfähigkeit. Sie sang noch im Chor, hatte einen Campingplatz auf der Insel im Liebnitzsee, doch irgendwann ging auch das nicht mehr. Aus Kinobesuchen wurden Filmabende.

Immer wieder rappelte sie sich auf. „Ich bin für dich da“, schickte sie per Sprachnachricht an Ben, den Chorleiter, als dieser Liebeskummer hatte. Und schließlich waren die Freunde, die Schwester und Lluis für sie da. Sie lag im Bett, musste gefüttert werden.

Und es kam der Moment, an dem sie wusste, dass sie nicht mehr wollte. Sie wendete sich an die Sterbehilfe, ließ sich prüfen und interviewen. Schließlich wusste sie, wann sie sterben würde, am 13. Juni 2022. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, regelrecht aufgeblüht ist sie in den letzten Tagen. Dann standen alle an ihrem Bett. „Oh, mein Fanclub ist da“, sagte sie.

Ihr Grab hat sie sich in einem Friedwald gewünscht. Sie wollte einen Baum für sich allein.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false