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Der „Homolulu“-Protestmarsch. Mehr als 1000 Schwule und rund 100 Lesben demonstrierten am 28. Juli 1979 in der Innenstadt von Frankfurt am Main gegen die Diskriminierung von Homosexuellen.

© picture-alliance / dpa

Schwul, lesbisch oder trans: Wie aus Liebe Menschenrecht wurde

An der Freien Universität wird zur Geschichte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt geforscht.

Von Pepe Egger

Wenn heute in Riad oder Moskau ein schwuler Mann verhaftet wird, weil er in einem Einkaufszentrum seinen Freund küsst: Hat er dann einfach gegen die Gesetze seines Landes verstoßen? Oder ist er jemand, der zu Unrecht eingesperrt wird? Die meisten würden wohl sagen: Dieser Mensch ist ein „prisoner of conscience“, ein politischer Gefangener, wie das die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt. Doch diese Einschätzung ist historisch neu: Sie ist das Ergebnis einer Entwicklung, die erst 30 Jahre zurückliegt.

Andrea Rottmann ist promovierte Historikerin und erforscht genau diesen Prozess: Sie untersucht als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität, wie es dazu gekommen ist, dass „Liebe zum Menschenrecht“ wurde. Denn die Nichtregierungsorganisation (NGO) Amnesty International wurde ursprünglich 1961 in London gegründet, um sich für jene Menschen einzusetzen, die von ihren Regierungen „wegen ihrer Überzeugungen oder ihrer Religion“ eingesperrt wurden. Dass man sich auch für jene engagiert, die wegen ihrer sexuellen Orientierung drangsaliert werden, war nicht von Beginn an so: Vielmehr ist es das Resultat einer langjährigen Auseinandersetzung innerhalb von Amnesty International und zwischen dieser NGO und Organisationen der Schwulen- und Lesbenbewegungen.

Normen, Werte und Diskurse verändern sich - manchmal lähmend langsam

Rottmanns Forschung ist ein Beispiel dafür, wie an der FU die Geschichte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erkundet wird. Genau wie Ideen, Religionen oder soziale Klassen haben auch jene Normen, Werte und Diskurse, die das Feld der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse beherrschen, eine Geschichte. Sie verändern sich, manchmal lähmend langsam und unter dem Radar, dann auf einmal für alle sichtbar und rasend schnell.

Andrea Rottmann untersucht die Auseinandersetzungen um und die Verschiebungen dessen, was heute in vielen Staaten als Grundrecht gilt – die Freiheit, Menschen desselben Geschlechts zu lieben –, im Laufe der Jahrzehnte. Ihre Arbeit ist angesiedelt im Unterprojekt „Menschenrechte, queere Geschlechter und Sexualitäten seit den 1970er-Jahren“ am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte an der Freien Universität, das Teil der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ ist.

An der Freien Universität besteht schon länger eine Art Vorreiterrolle auf dem Gebiet der queeren Geschichtswissenschaft – vor allem im „Queer History Lab“, das das Thema Queerness in die Ausbildung für Geschichtslehrkräfte eingebracht hat. Begonnen wurde damit 2011 mit einem Projekt für den Berliner Senat, für das Vorträge zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt an Schulen organisiert und Unterrichtsmaterialien für den Geschichtsunterricht erarbeitet wurden.

Zentral dafür verantwortlich war der Historiker Martin Lücke, einer der Pioniere für die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit queeren Themen an der Freien Universität. Er ist Initiator und Projektleiter sowohl für das DFG-Projekt „Menschenrechte, queere Geschlechter und Sexualitäten“ als auch für das seit 2014 bestehende DFG-Netzwerk „Queere Zeitgeschichten im deutschsprachigen Europa“, das für den Zeitraum von 1945 bis heute „den Wandel sexueller Subjektivitäten, Praktiken und Diskurse“ untersucht und dabei „die Bedeutung nichtnormativer Sexualitäten und Geschlechter für die Produktion sexueller Normen“ herausstellt.

Wie eine Geschichtswissenschaft aussehen kann, die sich queere Geschichte zum Gegenstand nimmt, zeigt ein Dissertationsprojekt an der Freien Universität. Die Historikerin Merlin Sophie Bootsmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtsdidaktik, treibt es voran unter dem Titel „Bildungsplan statt Berufsverbot. Wie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt innerhalb der letzten 50 Jahre vom schulischen Tabu zum Inhalt von Bildungs- und Lehrplänen wurde“. Bootsmann befasst sich mit einem fundamental wichtigen Bereich, wenn es um die Aushandlung von Rechten sexueller Minderheiten geht: die Institution Schule.

Bis Ende der 1960er-Jahre konnten geoutete Lehrer in Deutschland ihren Job verlieren

Bis Ende der 1960er-Jahre konnten Lehrer in Deutschland ihren Job verlieren und riskierten sogar eine Gefängnisstrafe, wenn sie als schwul geoutet wurden. 1969 wurde der Paragraf 175 im Strafgesetzbuch, der Sex zwischen Männern unter Strafe stellte, reformiert, abgeschafft wurde er erst 1994. Ein Viertel Jahrhundert später steht an vielen Schulen auf dem Lehrplan, dass Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit (Menschen, die die ihnen bei der Geburt zugeschriebene Geschlechterrolle leben) nur jeweils eine Möglichkeit von Sexualität sowie Geschlecht sind – und nicht die „normalen“ oder gar einzig zulässigen.

Dabei ist die Institution Schule bis heute ein umkämpftes Terrain: Immer wieder werden Kämpfe darüber ausgefochten, welche Art von sexuellen Normen oder Sichtweisen über Sexualität und Geschlecht dort gelehrt werden soll. Merlin Sophie Bootsmann nennt als Beispiele politische Kampagnen der amerikanischen Rechten und Proteste in Baden-Württemberg im Jahr 2015, bei denen Eltern gegen den Bildungsplan für sexuelle Toleranz der dortigen grün-roten Landesregierung protestierten, damals mit dem Wahlspruch „Stoppt die Sexualisierung unserer Kinder“.

Bootsmanns Arbeit zeigt die Entwicklung seit den 1970er-Jahren auf, wie Initiativen und Organisationen von schwulen und lesbischen Lehrkräften sich dagegen zur Wehr setzten, dass ihre Mitglieder diskriminiert oder gemobbt wurden und sogar ihre Arbeit verloren, wenn ihre sexuelle Orientierung bekannt wurde. Denn auch nachdem der Paragraf 175 im Jahr 1969 reformiert worden war, konnten bis Anfang der 1980er-Jahre Lehrkräfte nicht offen schwul sein; erst danach akzeptierten Behörden wie der Berliner Senat, dass die sexuelle Orientierung kein Grund zur Kündigung ist und dienstrechtlich keine Rolle mehr spielen darf.

„Normalität“ und Macht sind gekoppelt

Merlin Sophie Bootsmann untersucht diese Geschichte nicht als lineare Entwicklung, sondern als Resultat des politischen Handelns von Kollektiven wie der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), der Nationalen Arbeitsgemeinschaft Repression gegen Schwule (NARGS), der AG Schwule Lehrer in der GEW oder der Gruppe SchLAu NRW („Schwul-Lesbische Aufklärung“). Man muss sich das vorstellen: Als im Zuge des Zeitgeistes der Achtundsechziger-Bewegung von den westdeutschen Kultusministern 1969 zum ersten Mal beschlossen wird, dass künftig an deutschen Schulen auch Sexualerziehung gelehrt werden soll, kommt dort Homosexualität ausschließlich als problematisches Phänomen von Sexualität vor.

Und wo stehen wir heute? Im Jahr 2022 dürfte es theoretisch kein Problem mehr sein, wenn Jugendliche oder Lehrkräfte schwul, lesbisch oder trans sind. Und tatsächlich spricht einige anekdotische Evidenz dafür, dass die Zahl von Menschen, die ihr Coming-out an der Schule haben, so hoch ist wie nie zuvor. Und dass dies immer selbstverständlicher vor sich geht, immer weniger Aufhebens darum gemacht wird. Doch die Historikerin Bootsmann erinnert daran, dass die Institution Schule im Fokus steht, was das Thema sexuelle Vielfalt angeht. Noch immer und vielleicht noch für längere Zeit gibt es Auseinandersetzungen darum, was als „normal“ gelten soll: weil sich daran stets auch eine Frage von Macht knüpfe.

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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