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1994. 31. August. Die Tagesspiegel-Mannschaft posiert zum Redesign der Zeitung. Ganz hinten, unter der Weltkugel der heutige Chefredakteur Lorenz Maroldt.

© Hornbeck

70 Jahre Tagesspiegel - unsere Zeitung: Schreiber liefern die Musik, aber Gestalter den Klang

Die Seh- und Lesegewohnheiten der Leser haben sich über die Jahrzehnte verändert – auch der Tagesspiegel hat sich gestalterisch gewandelt.

Wenn Zeitungen ihr Layout ändern, gibt es immer einen Riesenaufstand. Gerade bei den Berlinern. 1995 hatte der Tagesspiegel in der Kopfzeile der Titelseite die Farbe Gelb, nach dem Relaunch 2004 war es dann Rot. Beige und Rot sind als Farben der Leserführung geblieben. Natürlich hagelt es bei einem neuen Design zuerst Kritik. Nach drei Tagen aber interessiert ein verändertes Layout nur noch die wenigsten. Einige kündigen vielleicht ihre Abonnements, manch einer hat es gar nicht bemerkt. Über die Jahrzehnte haben sich die Lese- und Sehgewohnheiten der Leser verändert.

Die Zeitungen haben sich dem immer wieder angepasst. Als der Tagesspiegel im September 1945 zum ersten Mal erschien, ähnelte er anderen Tageszeitungen vor allem in einem: Die Leserführung war fürchterlich. Titelseiten zeigten kurze Nachrichten oder Artikel, die auf der ersten Seite anfingen, manchmal mitten im Satz abbrachen, um auf einer anderen Seite ihre Fortsetzung zu finden. Bilder hatten zu dieser Zeit nicht die gleiche Bedeutung wie Nachrichten. Auf der Titelseite der Erstausgabe gibt es nicht ein einziges Bild. Das war nicht nur beim Tagesspiegel so, sondern bei den Zeitungen weltweit.

Druck von Fotos war aufwendig

Grund dafür war der Stand der Technik. 1945 war der Druck von Fotos zwar möglich, aber mit einem enormen Aufwand verbunden. Das Foto musste entwickelt werden, dann brauchte man einen Abzug, davon musste wieder ein Klischee für den Druck geätzt werden. Mit dem Fernsehen kamen in den fünfziger Jahren die Bilder in die Wohnungen. Sie wurden zum Standard, und Zeitungen mussten nachziehen. Die Fotos des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, anlässlich seiner berühmten Rede vor dem Schöneberger Rathaus auf der Titelseite der Ausgabe vom 27. Juni 1963, waren trotz der symbolischen und historischen Bedeutung noch sehr klein geraten.

Nur ein einziges großes Bild zu drucken, wie auf der Titelseite vom 10. November 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer, wäre auch 1961 denkbar, aber technisch aufwendig gewesen. Der nächste Entwicklungssprung kam 1967 mit der Einführung des Farbfernsehens, aber die Zeitungsbilder blieben vorläufig noch schwarz-weiß. Erst als Zeitungsdruckereien in den achtziger Jahren auf den Offsetdruck umstellten, konnte nicht nur farbig, sondern auch schneller gedruckt werden. Aufgabe der Gestaltung ist es, die Leserschaft auf die unterschiedlichen journalistischen Darstellungsformen hinzuweisen.

Dem Leser muss klar sein, was ihn erwartet

Der Leser weiß, dass am äußeren Blattrand Kommentare und Meinungen zu finden sind. Oft wird er nicht durch die Gestaltung explizit darauf hingewiesen, sondern er hat es mit der Zeit einfach gelernt. Beim Tagesspiegel werden Kommentare durch kursive Überschriften gekennzeichnet. Das ist zwar ein guter Ansatz, aber wäre es nicht sinnvoller, den kompletten Text kursiv zu setzen?

So etwas muss sich der Gestalter immer wieder fragen. Unterschiedliche Schriften zu verwenden, um es dem Leser einfacher zu machen, etwa bei Texten zu Kunst oder Gesellschaft? Mit einem Blick könnte der Leser für ihn uninteressante Texte herausfiltern. Er will wissen, worauf er sich einlässt. Kann ich die Nachricht in der einen Minute lesen, bis die S-Bahn eingefahren ist, oder muss ich mehr Zeit für den Artikel investieren? Das muss die Gestaltung leisten. Leserführung ist eins der drei großen Themen, die Tageszeitungen im Zeitalter der schnellen Medien auf der Agenda haben müssen. Dem Leser muss klar sein, was ihn erwartet. Niemand möchte die komplette Zeitung lesen, sondern nur das, was ihn interessiert. Eine wichtige Rolle nehmen dabei Überschrift und Unterzeile ein.

Rolle der Tageszeitung hat sich verändert

Hier müssen alle wesentlichen Informationen untergebracht sein. Leserführung kann aber nicht nur über den Inhalt gesteuert werden, sondern auch über das Layout und die Typografie. Neben der Leserführung ist das Vertrauen in die Marke wichtig. Das gilt für jede Marke der Welt, nicht nur für Tageszeitungen. Man vertraut der Marke, weil sie einen nicht enttäuscht. Weil die Zeitung das liefert, was ich wissen muss. Die Rolle der Tageszeitungen hat sich mit dem Überangebot von Informationen allerdings verändert. Schlagzeilen wie: „Deutsche Nationalmannschaft gewinnt mit 3:2“ will am nächsten Morgen niemand mehr lesen.

Diese Nachricht hat bereits am Abend zuvor jeder mitbekommen, sei es, weil man das Spiel verfolgt, in den Abendnachrichten davon gehört oder die DFB-Elf ihren Sieg bereits über Facebook verbreitet hat. Der Leser will den Hintergrundbericht. Warum hat die Nationalelf gewonnen, wer hat die Tore geschossen und welche Stimmen gab es nach dem Spiel? Tageszeitungen haben heute die Aufgabe von Wochenmagazinen übernommen: Hintergründe zusammenfassend, aber aufwendig und gut recherchiert darstellen. Nicht nur in ihren Printausgaben, sondern auch in ihren Internetauftritten.

Print braucht die Meinung

In Zukunft wird das Layout der Tageszeitungen noch deutlicher als bereits jetzt von den sogenannten „Longreads“ geprägt sein. Zum Vertrauen gehört auch, dass ich weiß, wer den Artikel geschrieben hat. Das ist der größte Unterschied zum Internet, wo Anonymität erleichtert wird. Wir sehen es gerade wieder bei den zahlreichen Hasskommentaren zur aktuellen Flüchtlingssituation. Selbst „Der Spiegel“ hat vor ein paar Jahren angefangen, seine Autoren zu benennen. Klare Positionierungen sind ein großer Vorteil von Tageszeitungen.

Print kann nur dann überleben, wenn es deutlich Meinung bezieht und die Meinung identifizierbar ist. Beim Tagesspiegel gibt es Leute wie Harald Martenstein oder Gerd Appenzeller, die liest man aufgrund ihres Stils. Es macht Spaß, ihre Texte zu lesen, gerade weil sie anspruchsvoll sind.

Internetblogs werden oft niedergeschrieben, ohne wirklich darüber nachzudenken, was man da schreibt. Der Stil unterscheidet Tageszeitungen von anderen schnellen Medien. Natürlich hat eine Tageszeitung nicht nur die Pflicht zu informieren, sondern auch zu amüsieren.

Nehmen wir den Checkpoint von Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt, der in diesem Jahr mit dem Grimme Online Award in der Kategorie „Information“ ausgezeichnet wurde. Die Nachrichtenlage ist an vielen Tagen schlimm genug. Manchmal müssen Journalisten und Leser Abstand von den harten Nachrichten gewinnen. Veränderungen im Layout oder in der Typografie wird es bei Tageszeitungen immer wieder geben, um sich den Wünschen der Leser anzupassen. Wie könnte also eine Zeitung in einigen Jahren aussehen?

Farben sollten eine Bedeutung haben

Vieles ist denkbar, zum Beispiel eine Änderung der Spaltenbreite. Damit wird dem Leser signalisiert, dass er für diesen Text länger als drei Minuten braucht. Eine Revolution wäre es, wenn Zeitungen Farben nur dann benutzen würden, wenn sie auch eine Bedeutung haben. Etwa bei der Leserführung. Es muss keine schwarze Schrift auf weißem Papier sein. Die Lesbarkeit würde nicht beeinträchtigt werden, wenn dunkelblau für ein bestimmtes Themengebiet verwendet wird. Der Leser könnte sich damit schneller orientieren.

Wenn Farben nicht dafür genutzt werden, plädiere ich für eine schwarz-weiße Tageszeitung. Gerade Fotos kommen gut ohne Farben aus. Und Schwarz-Weiß-Fotografie ist sowieso in Mode. Ob Angela Merkel nun einen roten oder einen grünen Blazer zum Händeschütteln trägt, ist dem Leser erst mal egal und für die Nachricht nicht relevant.

Fotos könnten aus Tageszeitungen verbannt werden, Grafiken oder Illustrationen nicht. Tageszeitungen behaupten ihre Rolle trotz der neuen Möglichkeiten durch das Internet. Layout und Typografie können dabei helfen. Denn die Schreiber liefern zwar die Musik, aber die Gestalter machen den Klang. Mitarbeit: Jessica Tomala

Dieser Text erscheint zum 70-jährigen Bestehen des Tagesspiegels. Lesen Sie weitere Beiträge zum Geburtstag auf unserer Themenseite.

Erik Spiekermann (68) ist einer der weltweit bekanntesten Typografen und Grafikdesigner. Er entwickelte Auftritte für Audi und die Bahn., entwarf das Fahrgastinformationssystem der BVG und arbeitete für Zeit online und The Economist.

Erik Spiekermann

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