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Rätsel gelöst: Das um 1880 in Berlin entstandene Ölgemälde von Gari Melchers hat Rudolf Mosse am 29. Juli auf der „Grossen Berliner Kunstausstellung“ erworben und mit dem Titel „Schlittschuhläufer“ in seine Sammlung aufgenommen. 1934 kam es per Versteigerung in die USA. Seitdem hängt es im Arkell Museum, Canajoharie/New York.

© Arkell Museum Canajoharie/New York

Provenienzforschung: Spurensuche im Dienst der Kunst

Studierende unterstützen Provenienzforscherinnen und -forscher der Freien Universität bei der Rekonstruktion der Kunstsammlung Rudolf Mosse. Eine Datenbank zu bisheriger Forschung ist online.

Eine Frau und ein Mann, mit Mütze und Hut, laufen durch den Schnee, die Wangen von der Kälte gerötet. „Schlittschuhläufer“ heißt das Ölgemälde des US-amerikanischen Künstlers Gari Melchers. Es heißt aber auch „Winter“ – denn das um 1880 in Berlin entstandene Bild hat zwei Titel, wie es – zum Leidwesen der Provenienzforscher – häufig vorkommt: Sie wissen, dass der Titel eines Werks allein über dessen Identität noch nicht viel aussagt. Im Fall des oben beschriebenen Bildes hat der Künstler nämlich eine zweite, fast identische Version des Schlittschuhläufer-Motivs gemalt. Diese hängt heute im Museum der Pennsylvania Academy of the Fine Arts in Philadelphia, das Werk aus der ehemaligen Mosse-Sammlung dagegen im Arkell Museum, Canajoharie/New York.

Das sind nur einige Details, die Stella Baßenhoff herausgefunden hat. Die Masterstudentin im Fach Kunstgeschichte hat im vergangenen Jahr an der Freien Universität an einem Seminar zur Erforschung der Provenienz von Werken aus dem Besitz Rudolf Mosses teilgenommen. Die mehrere tausend Objekte umfassende Sammlung des Verlegers, Kunstliebhabers und Mäzens, die in seinem Berliner Palais und auf Schloss Schenkendorf, dem brandenburgischen Landsitz der Familie, teilweise auch für die Öffentlichkeit zugänglich war, wurde von den Nazis zerschlagen: 1934 wurden die Stücke und das Mobiliar auf zwei Auktionen versteigert, auf unbekannten Wegen verkauft oder geraubt. Rudolf Mosses Erben – Tochter Felicia und Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse – hatten 1933 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vor den Nazis fliehen müssen, Mosse selbst war 1920 gestorben.

Seit März 2017 arbeiten Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Studierende der Freien Universität im Rahmen des Forschungsprojekts MARI – Mosse Art Research Initiative – an der Rekonstruktion der Sammlung und erforschen den Verbleib der einzelnen Stücke. Es ist die erste öffentlich-private Partnerschaft in der Provenienzforschung, bei der deutsche Institutionen mit Nachfahren von Opfern der rassischen Verfolgung während des NS-Regimes kooperieren; koordiniert wird das am Kunsthistorischen Institut angesiedelte Projekt von Meike Hoffmann. Die promovierte Kunsthistorikerin von der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ ist nicht erst seit dem Gurlitt- Fall, mit dessen wissenschaftlicher Untersuchung sie 2012 staatsanwaltlich beauftragt worden war, Expertin auf diesem Gebiet. Damals waren 1500 Werke in Cornelius Gurlitts Münchener und Salzburger Privatwohnungen gefunden worden, dem Sohn und Erben des im Nationalsozialismus tätigen Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt.

„Einzigartig“, nennt Roger Strauch, Mosses Stief-Urenkel, das Projekt

MARI sei ein Forschungsprojekt, kein Restitutionsprojekt – das zu betonen, ist der Wissenschaftlerin wichtig. Erst nach der Arbeit der Provenienzforscher kämen, falls nötig, Juristen ins Spiel, wenn es etwa um Fragen der Rückgabe gehe und mit Museen verhandelt werde müsse. Es sei das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, das ihr Team antreibe und die beteiligten Projektparteien verbinde, sagt Hoffmann. Parteien, die bei früheren Provenienzfällen oftmals eher gegen- als miteinander gearbeitet hätten: Wissenschaftler, Erben, Museen, staatliche Institutionen. „Einzigartig“ nennt Roger Strauch, Stief-Urenkel von Rudolf Mosse und Vertreter der Erbengemeinschaft, die Kooperation.

Die Bilanz der wissenschaftlichen Arbeit ein Jahr nach dem Start kann sich sehen lassen: Eine speziell auf das Projekt zugeschnittene Datenbank, die kürzlich freigeschaltet wurde, speichert, was die Recherche des vergangenen Jahres zu den verlorenen Kunstwerken zutage gefördert hat. Zum einen Basisinformationen: Wer hat ein Bild wann und wo gemalt, was ist darauf zu sehen; wenn vorhanden, wird eine Abbildung hochgeladen. Daneben wird die sogenannte Kontextforschung dokumentiert: Angaben zu allen Quellen, die bei der wissenschaftlichen Suche herangezogen worden sind – fruchtbare, aber auch weniger fruchtbare. Auch Irrwege seien wertvolle Spuren, die festgehalten werden müssten, sagt Meike Hoffmann: Dann wüssten nachfolgende Rechercheure, dass dort nicht „weitergegraben“ werden müsse.

Rund 100 Künstler aus der Mosse- Sammlung sind in dem Portal inzwischen verzeichnet, zu mehr als 115 Kunstwerken wurde die Forschung aufgenommen. Die Datenbank ist ein offenes System und nutzerfreundlich, zugänglich gleichermaßen für die Fachwelt und die interessierte Öffentlichkeit. Je nach Interesse bleibt man bei den Basisinformationen oder sucht auf vier tieferliegenden Ebenen nach weiterführenden Fakten. Der Zuschnitt der Datenbank soll schrittweise an die Anforderungen angepasst werden, die sich mit den Untersuchungsergebnissen erweitern und differenzieren werden. Vor dem MARI-Portal habe es „keine ideale Lösung“ für die Darstellung von Provenienz-Resultaten gegeben, sagt Meike Hoffmann. Es setze deshalb Standards.

Stella Baßenhoff fand die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen

Dass Stella Baßenhoff Gari Melchers Gemälde aus der Mosse-Sammlung mit dem Titel „Schlittschuhläufer“ – oder auch „Winter“ – aufspüren konnte, gleicht ein wenig dem Fund der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen. Bei dem zunächst in Philadelphia gefundenen Werk konnte schnell ausgeschlossen werden, dass es aus der Mosse-Sammlung stammt: Das Museum dort konnte nachweisen, dass der Museumsgründer das Werk 1882 direkt von Gari Melchers erworben hatte und es den Ort seitdem nicht verlassen hat. Wo also befand sich Mosses Gemälde?

Stella Baßenhoff recherchierte zunächst über die Materialien, die das MARI-Team den Studierenden bei Seminarbeginn zur Verfügung stellt: Auktions- und Sammlungskataloge, Fotografien, Datenbanklisten, Briefwechsel zwischen Rudolf Mosse und Künstlern sowie Hinweise auf Archive. Überall dort taucht das Werk mit dem Titel „Schlittschuhläufer“ auf. Dann stieß sie auf einen Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums Berlin aus dem Jahr 1996, in dem die Gari-Melchers-Expertin Joanna DeGilio Catron in einem Aufsatz erwähnt, dass Rudolf Mosse das Gemälde „Winter“ auf der „Grossen Berliner Kunstausstellung“ von 1900 am Lehrter Bahnhof gekauft habe. Auch im Ausstellungskatalog der „Kunstausstellung“ war es als „Winter“ erwähnt, wie die Studentin herausfand. Das genaue Datum des Verkaufs – der 29. Juli – förderte die Suche im Archiv des „Berliner Tageblatts“ zutage, eine der Zeitungen aus dem Mosse-Verlag, in denen regelmäßig über Kunstverkäufe berichtet wurde. Joanna DeGilio Catron bestätigte Stella Baßenhoffs Recherche und sandte ihr zudem eine Notiz aus Melchers’ Nachlass zu: einen Auszug aus dem Kontobuch des Künstlers, in dem er den Verkauf seines Gemäldes „Winter“ an Rudolf Mosse mit dem Hinweis „um 1900“ vermerkt hatte. Jetzt war klar, dass „Winter“ und das später von Mosse in „Schlittschuhläufer“ umbenannte Gemälde ein und dasselbe Werk waren. Von der Expertin erfuhr die Studentin auch, dass es sich heute im Arkell Museum befindet. Als sie die „Schlittschuhläufer“ schließlich auf der Facebook-Seite des Museums fand – mit der Abbildung hatte sich das Haus in die bevorstehende Winterpause verabschiedet – war das letzte noch fehlende Mosaiksteinchen gefunden und die Provenienzkette geschlossen.

Die Recherchestrategie wird genau dokumentiert

Ein Werk identifizieren, sogar lokalisieren zu können, sei ein Glücksfall, sagt Meike Hoffmann, räumt aber ein: „Es kommt häufiger vor, nichts zu finden, als etwas zu finden.“ Das liege daran, dass Mosse neben Spitzenwerken auch viele Werke von heute unbekannten Künstlern gesammelt habe. Für den Seminarerfolg entscheidend sei deshalb allein die überzeugende Dokumentation der Recherchestrategie. Damit wiesen die Studierenden nach, dass sie das Grundhandwerk der Provenienzforschung beherrschen.

Ob sie stolz sei auf ihren Mosse-Fund? Gefreut habe sie sich, sagt Stella Baßenhoff, dass sie mit ihrer Arbeit zur MARI- Recherche habe beitragen können: „Das Seminar und die Beschäftigung mit den Kunstwerken hat mir das Feld der Provenienzforschung nahegebracht.“ Und sie auf eine Spur geführt, die sie weiterverfolgen will: Im Herbst wird sie ein Praktikum in London machen, in der Provenienz- und Restitutionsabteilung des Londoner Auktionshauses Sotheby’s. Dort werden die angelieferten Werke, bevor sie zur Versteigerung kommen, auf ihre Herkunft untersucht.

MOSSE ART RESEARCH INITIATIVE

Die im März 2017 begründete Kooperation von Freier Universität Berlin und den in den USA lebenden Erben Rudolf Mosses ist die erste öffentlich-private Partnerschaft dieser Art in der Provenienzforschung. Finanziert wird das Projekt vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste und den Erben: Beide Seiten beteiligen sich an dem Vorhaben zunächst zwei Jahre lang mit insgesamt einer knappen halben Million Euro. Weitere Kooperationspartner sind die Kulturstiftung der Länder, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Mathildenhöhe Darmstadt, die Kunsthalle in Karlsruhe und andere Museen: www.mari-portal.de

Christine Boldt

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