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Erzählen – mit allen Mitteln. Jenny, gespielt von Juliane Götz (l.) und Asip, gespielt von Jan Jaroszek, treffen sich auf einer Brücke – als Jenny gerade springen will. Am Ende heilen sie sich gegenseitig. Regisseur Robert Neumann arbeitet dabei stilistisch eher reduziert.

© Göran Gnaudschun

Jugendstück "Asip und Jenny" am HOT: Theater in Potenz

Robert Neumann inszeniert mit „Asip und Jenny“ am HOT ein Jugendstück über Flucht und Einsamkeit

Kurz ist man irritiert. Das erste Drittel von „Asip und Jenny“, des neuen Jugendstücks am Hans Otto Theater, ist nur Dialog. Jenny (Juliane Götz) spricht, Asip (Jan Jaroszek) hört zu, fragt nach. Lässt sich von ihr beißen, neckt sie, ermahnt sie. Rettet ihr das Leben. Von sich erzählt er nur das Nötigste. Bis er plötzlich zur kleinen Kamera greift – und zu allen spricht. Zu Jenny, zum Publikum, zur Gesellschaft.

Da durchbricht er das bislang stilmittelarme Stück, projiziert sich selbst an die Wand, setzt sich neu in Szene. Und Asip hat viel zu erzählen, er ist aus Afghanistan geflohen, sein Vater hat es nicht geschafft. Asip will für Deutschland Olympiasieger werden und findet, Frauen sollten dieselben Rechte wie Männer haben.

Nun ist das mit den Live-Videos im Theater so neu eigentlich nicht. Schon 2003 klagten Berliner Theaterkritiker: Wenn doch die Volksbühne nur einmal im Jahr auf eine Videoprojektion verzichten würde. Schon damals machte sich Diedrich Diederichsen darüber lustig. Genauso absurd wäre es zu fordern, auf sprechende Schauspieler oder auf Musik zu verzichten. „Diskutierenswert ist aus der Perspektive des Theaters und seiner Kritikerinnen offensichtlich nur die Frage, ob und in welcher Menge dieser im Prinzip verzichtbare Fremdkörper auf einer Bühne erscheinen darf, nicht ob er prinzipiell als Fremdkörper zu gelten hat.“

Ein Fremdkörper sind die Projektion in „Asip und Jenny“ sicher nicht, sie zeigen vielmehr, warum Live-Videos so gut im Theater funktionieren – nicht nur bei jugendlichen Zuschauern : Eben wegen der Irritation, der leichten Verstörung, die sie auslösen können. Weil sie – über die riesige Leinwand, auf die sie projiziert werden – auch den Schmerz, fast schon pornografisch, vergrößern. Close-up. Nicht umsonst weinen wohl mehr Menschen im Kino als im Theater.

Und dann eröffnet die Projektion auch noch eine zweite Reflektionsebene. Lässt den ganzen harten Scheiß, den die beiden Jugendlichen, die sich da auf einer improvisierten Brücke näherkommen – die tief verzweifelte, wohlstandsverwahrloste Jenny und der hoch disziplinierte, optimistische Asip – erleben, tiefer einsickern in die Zuschauer.

Das Stück übrigens, das am Mittwochabend am HOT Premiere hatte, geht auf eine im März 2014 vom österreichischen ORF-Magazin „Thema“ ausgestrahlte Serie „Schule fürs Leben – Das Experiment“ zurück. Für ein halbes Jahr hatten der Fernsehredakteur Christoph Feurstein und sein Team Schüler von zwei unterschiedlichen Schulen begleitet – einer Mittelschule, an der 98 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben, und eines Gymnasiums mit Schülern aus wohlsituierten Verhältnissen. Sie fragten die 14- bis 15-Jährigen nach ihren Wünschen und Zielen, so lernten die Jugendlichen die Lebenswelt der jeweils anderen kennen. Einer der Schüler war Asip – der echte, der auch zur Premiere nach Potsdam gekommen war. Er war im Jahr 2010 mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern aus Afghanistan nach Österreich geflüchtet. Die Autorin Angela Schneider sah den Fernsehbeitrag und schrieb daraufhin das Stück. Sein Teil der Geschichte ist weitgehend tatsächlich so passiert. Jennys Geschichte hat Schneider frei dazuerfunden. Auch deshalb passt es, dass es nur Asip ist, der sich selbst filmt, seiner Rolle damit etwas Dokumentarisches verleiht.

Insofern ist der Einsatz von Video natürlich kein Zugeständnis an die – für manche Erwachsene immer noch neuen – Sehgewohnheiten von Jugendlichen, die Handy und Tablet gleichzeitig bedienen können und mit schnellen Schnitten statt langen Einstellungen im Kino groß geworden sind. Auch wenn der Regisseur Robert Neumann, der „Asip und Jenny“ am HOT inszeniert hat, schon sagt: „Wenn es zu langatmig wird, zu wenig schnelle Schnitte, dann sind die raus.“

Wie Aufmerksamkeitshascherei wirkt sein – ohnehin dezenter – Einsatz der Live-Kamera aber eh nicht. Sie funktioniert, wie Live-Kamera eben funktionieren soll: Das Theater wird in einen anderen Kontext gestellt und somit von sich selbst reflektiert. Was heißt hier authentisch?, scheint dieses Mittel zu fragen. Und: Seid ihr euch wirklich sicher, wer hier spricht? Ist es der Autor, der Schauspieler, die Figur – oder etwas Weiteres?

Wenn also Asip, der in jeder Szene eine kluge, durchdachte Antwort auf Jennys Trotz hat, plötzlich auf etwas Unaussprechbares in sich stößt – dann ist das Live-Video ein probates Mittel. Plötzlich spricht er nicht mehr zu Jenny, sondern zu uns allen. Von der Leinwand herab blickt er in den Theatersaal und er spricht nicht mehr nur für sich, sondern für das Leid vieler. Nur so, vermittelt, kann er vom Tod seines Vaters und dem Trauma der Flucht erzählen. Die Schwarz-Weiß-Verzerrung der Aufnahme lässt sein Gesicht wie durch ein Nachtsichtgerät aufgenommen erscheinen. Die Assoziation passt. Was wir bei Tag nicht denken können, findet uns ja auch vermittelt. Nachts, im Traum.

Am Ende ist es egal, mit welchen Mitteln – Musik, schnellen Schnitte, Tanz oder Videospiel-Ästhetik – der Zuschauer berührt wird. Hauptsache, er bekommt etwas, auf dem er zu Hause noch herumkauen kann. Mit ungebrochenen Regeln – auch des Sehens – klappt das nicht. Um unter die Oberfläche der Gedanken zu dringen, taugt Schönheit nicht, da braucht es etwas Verstörendes. Und die Augen von Jan Jaroszek aka Asip sind, in dieser einen Video-Sequenz, wirklich verstörend in ihrer Traurigkeit.

„Asip und Jenny“ ist für Jugendliche ab 13 Jahren und wieder zu sehen am 19. und am 26. Mai, jeweils um 18 Uhr in der Reithalle, Schiffbauergasse.

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