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Stimmgewaltige Klangkultur. Chormusik ist wieder stark in Mode. Hier die Junge Kantorei Hermannswerder.

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Kultur: Leicht ist nicht simpel

Bei der Nacht der Chöre wurde am Samstag im Nikolaisaal deutlich, dass Singen mindestens so viel Spaß macht, wie Zuhören

Noch bis vor wenigen Jahren klebte an Chormusik etwas sehr Altbackenes, Unfreies, Gestelztes. Erst in der letzten Zeit scheint das Singen wieder in den Alltag zurückgekehrt, erfreuen sich Chöre wieder eines regen Zulaufs. Im Allgemeinen gibt das kulturelle Berlin den Trendsetter, im dritten Jahrgang schon zieht das Singfest „Chor@Berlin“ ins Radialsystem am Ostbahnhof ein Publikum, das vermutlich früher nie zu einem Chorkonzert gegangen wäre.

Nun strahlte das umtriebige Festival erstmals nach Potsdam aus, wo in der Nacht zu Sonntag der Nikolaisaal von nicht weniger als sieben Chören heimgesucht und belebt wurde. Ab 19 Uhr gab es auf Ohren, Kehlen, Seelen bis Mitternacht. Michael Betzner-Brandt, Allzweckwaffe gegen Singfaule und Leiter von gefühlt 47 Jazzchören, gab schließlich die Richtung vor: Auch das Publikum erfuhr mit Staunen, dass Singen mindestens so viel Spaß macht, wie einem Gesang zuzuhören. Mit ähnlichen Aktionen hatte der Tausendsassa schon in Berlin Erfolg, wo er im „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ das Herz auf die Zunge der Verzagten lockte.

Ein bisschen verzerrt ist das Bild dieser Nacht, denn auch im Nikolaisaal steuert Betzner-Brandt die Hälfte der Aktionen bei, als habe er ein Abo auf Chorkonzerte. Das hat zur Folge, dass die Darbietungen über den Abend hin vom Genre her sehr einseitig bleiben. Das Eröffnungskonzert mit Duke Ellingtons „Sacred Concert“ beweist stupende, dass es leider nicht reicht, gekonnt mit dem Körper im Groove zu wippen und vor lauter Begeisterung die Augen zu schließen, weil man sich so bei der Sache fühlt. Gerade die Jazzharmonik ist verteufelt schwer zu singen, vor allem wenn es ans A-cappella-Eingemachte geht, und da hat Michael Betzner-Brandt mit der Vocal Groove Generation, BerlinVokal und Projektsängern der Universität der Künste vor allem Musizierfreude einstudiert.

Das größte Missverständnis besteht aber oft darin, dass diese gleichbedeutend mit musikalischer Einfachheit sei. Entspanntes Sing’n’Swing mag für die Mitwirkenden zum Teil eine Art von Selbstverwirklichung sein – aber dabei übersieht man schnell, dass gerade eine Jazzgröße wie Ellington nicht nur der vielgepriesene Vollblutmusiker, sondern auch ein ganz präziser Techniker und Könner war. Nur weil Jazz leicht aussieht, ist er deswegen nicht automatisch simpel.

An die 100 Kehlen versammeln sich da auf der Bühne, aber der daraus hervorgebrachte Klang ist weniger bezwingend denn ambitioniert, mehr gewollt als gekonnt. Eher peinlich das dünne Stimmchen von Solistin Ann-Kristin Mayr, unfreiwillig komisch dagegen Stepperin Laura Santiso Gil. Was die gereifte Dame in so absonderlicher Plumpheit aufs Parkett legt, als stäke ihr ein Stock im Rücken, erinnert eher an Teichgeflügel denn an eine elegante Stepptänzerin.

Wie ein anderer Stern leuchtet da der deutlich jünger und erquicklich stimmfrisch wirkende Berliner Chor Cantus Domus, der mit Ausschnitten aus dem deutschen Requiem von Johannes Brahms wärmsten Applaus erntet, ohne ganze Fanfamilien anzukarren. Dirigent Ralf Sochaczewsky zeigt, was man im wahrsten Sinne bewegen muss, um wirklich bewegend zu sein und nicht nur oberflächlich modisch. Cantus Domus dringt in beziehungsreiche Tiefen vor, wo andere zwar spontaner mitzureißen, aber nicht nachhaltig zu wirken imstande sind. Leider bleibt das Niveau dieser Klangkultur solitär an diesem Abend.

Gleichwertige Ensembles aus Potsdam gibt es durchaus, nur sind sie aus unerfindlichen Gründen nicht bei dieser Chornacht vertreten. So müssen die Junge Kantorei Hermannswerder und der Jugendkammerchor der Singakademie Potsdam hier die musikalische Ehre der Landeshauptstadt verteidigen, was für Ensembles dieser Altersklassen naturgemäß schwer ist. In überwiegendem Maße liegt es jedoch nicht an den jungen Stimmen, sondern an ihren tüchtigen Bildnern und Leitern, die zu wenig musikalische Strahlkraft besitzen, um über das überwunden geglaubte Klischee von Chormusik als Hort der Piefigkeit hinausgehen zu können. Christian Schmidt

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